Ein Arbeiter, der nach vierzig Jahren seinen Job verliert. Eine Männerrunde, die den etablierten Parteien nicht mehr viel zutraut. Reise nach Regen im Bayerischen Wald, wo die Sorge um die Zukunft langsam um sich greift.
Es sind noch zwei Stunden, dann wird das Berufsleben des Mannes am Küchentisch unter dem Marienbild nach vierzig Jahren in «seiner Firma» abgewickelt. Er trägt schon die Arbeitshose, es riecht nach Essen, Töpfe stehen auf dem Herd. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, aber seine Wut, seinen Ärger und seine Sorgen schon. Er ist 55 Jahre alt, seit seinem fünfzehnten Jahr arbeitet er beim Brillenglasproduzenten Rodenstock in Regen, seiner Heimatstadt. Auf der Betriebsversammlung um 14 Uhr wird er mutmasslich erfahren, dass er ab dem 1. März keinen Job mehr hat.
Was der Mann mit dem schütteren dunklen Haar und dem ergrauten Bart gerade erlebt, erleiden seit längerem durchschnittlich 10 000 Menschen pro Monat in Deutschlands Industrie. Es ist etwas, das schon beinahe vergessen war und unwirklich scheint: Entlassung, Arbeitslosigkeit. Konzerne kündigen Stellenabbau an, etwa Volkswagen, Bayer, Bosch und BASF, Mittelständler folgen, etwa ZF in Friedrichshafen oder der Wohnmobilhersteller Tabbert in Jandelsbrunn in der Nähe von Regen.
Die Angst vor dem Abstieg, finanziell, wirtschaftlich, gesellschaftlich, schleichend kehrt sie nach Deutschland zurück. Sie paart sich mit einer weitverbreiteten Angst vor Überfremdung durch illegale Migration und vor politischen Verhältnissen, die Lösungen für die wesentlichen Probleme des Landes kaum noch möglich machen. Knapp eine Woche vor der Bundestagswahl lässt sich diese Sorge in Regen im Bayerischen Wald spüren.
Die Ehe ist aufgekündigt
In der Stadt leben 11 000 Menschen. Von Deggendorf kommend, sieht man von der Bundesstrasse aus den gleichnamigen Fluss, an dem sich Ein- und Zweifamilienhäuser aneinanderreihen. Regen ist kein sozialer Brennpunkt, wie es sie in vielen Grossstädten gibt. Hier herrscht kaum Armutsrisiko. Das eigene Haus gehört zum Lebensziel, so ist das seit Jahrzehnten. Wer bei Rodenstock arbeitete, schloss einen Vertrag auf Lebenszeit, wie eine Ehe. Da ging man nicht mehr weg. Der Rest kam von allein.
Doch diese Liaison ist aufgekündigt. Vor gut 125 Jahren hatte das Unternehmen eine Produktion in Regen aufgebaut und dort zuletzt ausschliesslich Brillengläser hergestellt. Nun verlagert Rodenstock die Produktion nach Tschechien und Thailand. In Regen bleiben nur noch die Entwicklungsabteilung, der Kundenservice und die IT-Abteilung.
Der Mann unter dem Marienbild blickt ernst. Von diesem Küchentisch, in diesem Haus, gebaut von seinen Eltern, ist er vier Jahrzehnte morgens, mittags oder abends aufgestanden und zur Arbeit gefahren. Er war Brillenoptikschleifer, tarifgebunden, eine 35-Stunden-Woche mit zwölf überdurchschnittlich guten Monatsgehältern, Schicht- und Feiertagszuschlägen, Weihnachts- und Urlaubsgeld. Davon liess sich ein gutes Leben führen.
In der Küche steht eine Eckbank um den Tisch, in der Nische eine Holztafel mit Inschrift: «Eine Familie ist wie ein Baum, die Wurzeln halten alles zusammen, auch wenn die Äste in verschiedene Richtungen wachsen.» Die Familie, das sind vor allem seine Frau und die erwachsene Tochter, aber auch Rodenstock, die Kollegen, die jetzt abgeschoben werden, wie er sagt.
«Es ist einfach nur traurig»
Im September hat die Unternehmensführung verkündet, von 500 nur noch gut 250 Jobs erhalten zu wollen. Der Mann war dabei, er spricht von einer Farce. Ein paar Minuten habe der Betriebsleiter von zu hohen Kosten und einer endgültigen Entscheidung geredet. Dann sei er wieder gegangen, ohne auf die Fragen der schockierten Belegschaft einzugehen. «So fühlt es sich an, verarscht zu werden», meint der Mann, wiegt den Kopf, hebt und senkt die Hände, ringt nach Worten und sagt dann: «Es ist einfach nur traurig.»
Er wird nicht ins Bodenlose fallen. Er hat ein Haus und einen hellen Kopf. Er will sich etwas anderes suchen. Doch es macht etwas mit Menschen, wenn langgehegte Gewissheiten verlorengehen, ein Leben in Unordnung gerät. Wenn sie plötzlich überlegen müssen, ob sie sich noch die Ferien oder das Auto leisten können. Der Mann sagt, er habe Kollegen, die bei der Bundestagswahl die AfD wählen wollten, allein aus Protest gegen die Entwicklungen im Unternehmen. Er selbst habe noch nicht entschieden, aber er hoffe, für «das Richtige» zu stimmen.
Wenn man die Bundesstrasse 11 Richtung Regen verlässt, kommt man dort vorbei, wo der Mann sein Leben lang gearbeitet hat. Über dem Tor steht der Schriftzug von Rodenstock, und die Gebäude daneben und dahinter lassen erahnen, dass die Führung dieses Unternehmens schon länger damit geliebäugelt haben muss, den Standort aufzugeben.
Viele Gebäude sehen aus, als sei hier schon länger kaum mehr investiert worden. Schmucklose Betonblöcke über mehrere Etagen, dahinter flache Bauten und Baracken, einzusehen vom Parkplatz aus, an dessen Zufahrt ein Plakat von der AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel hängt. Seit in den neunziger Jahren ein Investor bei Rodenstock einstieg, sank die Zahl der Beschäftigten vor Ort von 2600 auf zuletzt gut 530. Es ist ein Niedergang in Raten, auch in der Stadt kann man das sehen.
Niedergang in Raten
Den zentralen Platz von Regen durchzieht eine Strasse, gesäumt von einem Bioladen, einem Geschäft für Hörgeräte, einem Kleider-Outlet, einer Eisdiele, einer Bank und einem Versicherungsbüro. Dazwischen gibt es immer wieder Leerstand, obwohl die Arbeitslosenquote nur bei 3,5 Prozent liegt. Doch die Zahl sozialversicherungspflichtiger Jobs sagt eben nicht alles über den Zustand eines Ortes.
Ein paar Meter vom Stadtplatz entfernt steht das Wirtshaus der örtlichen Falter-Brauerei, verrammelt, weil sich kein Pächter mehr findet. In der Metzgerei am Stadtplatz klagt die Verkäuferin, niemand wolle noch einen solchen Job machen, nicht in der Gastronomie und auch nicht in ihrer Metzgerei. Alle Orte in der Gegend hätten das Problem: verödende Zentren, wachsende Tristesse, schleichender Niedergang.
Der Bayerische Wald liegt im Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Österreich. Im Sommer 2015 entstanden hier Fotos, die um die Welt gingen: Asylmigranten, die auf Feldwegen über grüne Hänge liefen, über ihnen der Wald, vor ihnen die Polizei. Es war der Beginn eines bis dahin ungekannten deutschen Kontrollverlusts. Allein in Regen leben heute gut 600 Migranten, der grösste Teil in zwei Grossfamilien aus Syrien.
Als die Flüchtlinge durch den Wald zogen
Albert Paternoster kann sich an die Monate, in denen die Flüchtlinge durch den Bayerischen Wald zogen, noch gut erinnern. Er hat sein halbes Leben beim Zoll gearbeitet und unterstützte damals die Bundespolizei. Seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren lebt er allein in einem Haus nahe Regen. In seinem Wohnzimmer hat er den Esstisch ausgezogen und einige Stühle mehr als sonst beigestellt. Gäste kommen, eine Männerrunde, Freunde, Brüder, Cousins und Neffen, zwei Generationen, an der Wand ein Kruzifix und auf dem Tisch Gläser und Flaschen.
Albert Paternoster, 69 Jahre alt, und sein Bruder Rudi, 62, sind die Ältesten in der Runde, dazu Manuel und Franz Paternoster, beide 43, Franz Feineis, 59, und Günther Ertl, 54. Sie alle leben hier, zwei von ihnen im Ruhestand, die anderen sind Facharbeiter. Der Wald, wie sie die Region nennen, ist ihr Zuhause, bodenständige Leute, die nichts wegzieht. In Berlin würden sie sagen, es seien Provinzler.
Doch Deutschland ist eben nicht Berlin, München, Köln und Hamburg, die Millionenstädte. Deutschland besteht vor allem aus Dörfern und Kleinstädten wie Regen. Provinz ist überall. Deshalb sind die sechs ein guter Querschnitt der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Und wer sie reden hört, versteht vielleicht, dass nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen etwas ins Rutschen gerät.
Unvorstellbare Zustände
Albert Paternoster sitzt am Kopf des Tisches; 39 Asylmigranten, beginnt er, habe er einmal aus einem Transporter geholt. Bis heute könne er sich genau erinnern, unvorstellbar, wie es damals zugegangen sei. Die anderen steigen bei dem Thema sofort ein. Die Städter verstünden nicht, was es mit den Dörfern mache, wenn dort plötzlich Hunderte Asylmigranten untergebracht würden, bemerkt Franz Feineis. Das erzeuge Angst und Abwehr, und das wisse die AfD abzuschöpfen. Bei der Europawahl hat die Rechtsaussenpartei hier gut ein Fünftel der Stimmen geholt.
Dunkler, undurchdringlicher Wald, umgeben von Hügeln und Bergen, kalte, schneereiche Winter, abgeschottet vom Rest der Republik, das war jahrzehntelang der Bayerische Wald. Eine strukturkonservative Gegend, man wählte überwiegend CSU. Bis heute erinnern sich die Leute, dass hier vor 50 Jahren noch eher ärmliche Verhältnisse herrschten.
Die selbstverständliche Mehrheit haben die Christlichsozialen dort heute nicht mehr, aber sonst steht der «Waldler» Veränderung eher abwartend gegenüber. Damit unterscheidet er sich kaum von den Menschen in vielen anderen Teilen Deutschlands.
Doch die Welt hat sich gedreht. Russlands imperialer Krieg in der Ukraine, die zweite Amtszeit von Donald Trump, Migration, Inflation, teure Energie und eine Wirtschaft, die sich im dritten Jahr der Rezession befindet – das alles sind Herausforderungen, die jede für sich schon viele Leute überfordern würde. Die Welt befindet sich im Umbruch, das Lebensgefühl vieler Deutscher ist von Angst geprägt. In der Bundesrepublik geht mehr und mehr die Zuversicht verloren.
Die AfD ist der Elefant im Raum
Die AfD steht wie der Elefant im Raum, jeder am Wohnzimmertisch von Albert Paternoster kennt jemanden, der sie wählen will. Aus Frust, wie sie sagen, über eine Politik, die sich mit Sprachvorgaben und Geschlechterdebatten beschäftige, aber nicht mit den «wirklichen Problemen des Landes». Manuel, der 43-jährige Sohn von Albert, sagt, in den umliegenden Dörfern von Regen würden die Eltern vermehrt darauf achten, ihre Kinder nicht in die Mittelschule nach Regen zu schicken, da dort der Migrantenanteil zu hoch sei.
Frust hätten die Leute, kein Vertrauen mehr in die «etablierten Parteien». Wenn der Staat wolle, dass «die Migranten hierherkommen», dann könne er sie nicht einfach in leerstehende Häuser auf dem Land stecken und warten, was passiere, sagt Günther Ertl. Er müsse sich dann auch um ihre Integration kümmern und diejenigen Migranten, die sich nicht anpassen wollten, wieder in ihre Herkunftsländer schicken.
Deswegen sympathisiert die Runde aber nicht zwingend mit der AfD. Noch sei es so, dass diese Partei mehrheitlich aus Protest und nicht aus Überzeugung gewählt werde, wie es in anderen Regionen Deutschlands längst der Fall ist. Noch könnten die Leute zurückgewonnen werden, wenn sie sähen, dass die «etablierten Parteien» endlich die Probleme angingen. Nicht jeder, der die AfD wähle, sagt Rudi Paternoster, sei ein Rechtsradikaler, wohl aber viele AfD-Abgeordnete in den Landtagen und im Bundestag.
Die Einschläge kommen näher
Der Abend schreitet voran, die Rede kommt auf Rodenstock und andere Unternehmen in der Region, denen es nicht so gut geht. Ertl und Rudi Paternoster haben früher bei Rodenstock gearbeitet und sind weg, als der Niedergang einsetzte. Nein, sagen sie, es gehe ihnen nach wie vor gut. Aber hier und da gebe es Kurzarbeit, die Einschläge kämen näher.
Und dann kennt jeder einen, der bei BMW in Dingolfing arbeitet, 70 Kilometer entfernt, Dutzende Busse karren die Arbeiter jeden Tag aus dem Bayerischen Wald ins Werk. Wie lange geht das noch so? «Wenn BMW hustet, sterben hier die Leute», sagen sie am Tisch von Albert Paternoster.
Die Angst vor dem Abstieg, sie schleicht sich langsam an. Seinen Kindern werde es noch so gut gehen wie ihm heute, sagt der Hausherr. «Beim Gedanken an meine Enkel aber graust es mir.» Vom anderen Ende des Tischs erwidert Franz Feineis, das hätten die Leute früher auch schon gesagt. So schlimm sei es dann aber doch nicht gekommen. Rudi Paternoster neben ihm meint, «wir müssen in vielen Bereichen den Rückzug einlegen». Der soziale Wohlstand sei in seinem heutigen Masse nicht mehr finanzierbar. Das könnten die Jungen gar nicht erwirtschaften. «Da müssen wir Alte Abstriche machen.»
Sie wissen, wen sie wählen werden
Günther Ertl fragt, was das überhaupt heisse, wenn man von Wohlstandsverlust rede. Er kenne Kollegen, die heute statt fünf nur noch drei Mal im Jahr in die Ferien fahren könnten und deshalb AfD wählten. «Es ist verrückt, dass wir den Leuten heute sagen müssen, dass es ihnen immer noch verdammt gut geht», sagt er.
Das Kreuz auf dem Wahlzettel am kommenden Sonntag, sie alle wüssten längst, wo sie es setzten, sagen sie: bei der CSU. Nur Manuel schwankt. Blau oder Schwarz, er habe sich noch nicht entschieden. Rudi Paternoster meint, wenn es künftig keine grundlegend andere Politik gebe, «dann werden wir 2029 weitaus schwierigere Verhältnisse bekommen».
Dann steht die nächste Bundestagswahl an, und er, so sagt es Günther Ertl, hoffe, dass es Friedrich Merz und der Union gelinge, der AfD das Wasser abzugraben. «Wenn Merz das in den nächsten vier Jahren schafft, haben wir Glück.» Wenn nicht, werde es düster. Die Menschen «im Wald» wüssten, wie schwer es ist, sich etwas aufzubauen. Das wieder zu verlieren, darin bestehe ihre grösste Angst.
Es ist spät geworden, kalte Februarnacht liegt über Regen. Vielleicht sitzt jetzt nach der Spätschicht auch der Mann wieder an seinem Küchentisch unter dem Bild mit Maria, die Jesus im Arm hält, neben ihm seine Frau, der er erzählt, was er in der Betriebsversammlung gehört hat. Dass er wahrscheinlich entlassen werde, dass er sieben Tage nach der Bundestagswahl seinen letzten Arbeitstag habe. Dass es aber noch nicht sicher sei, weil die Namen der zu Entlassenden noch nicht feststünden. Die Kündigungsschreiben sollten demnächst rausgehen.