Israels Ministerpräsident verspricht Besonnenheit, doch der Ruf nach einem Gegenschlag wird bereits laut. Irans beispielloser Angriff eröffnet der Regierung in Jerusalem eine grosse strategische Chance – wenn sie diese richtig nutzt.
In Israel ist die Aufregung vorbei – vorerst. Nachdem in der Nacht über 300 Drohnen, ballistische Raketen und Marschflugkörper aus Iran nach Israel abgefeuert wurden, begann in Tel Aviv ein Sonntag wie jeder andere auch. Mütter schoben ihre Kinderwagen durch die Frühlingssonne, die Cafés sind genauso gut besucht wie sonst auch zum Wochenbeginn, die Menschen gingen zur Arbeit. Doch wie lange bleibt es so ruhig? Nach dem beispiellosen Angriff Irans auf israelisches Staatsgebiet berät die Regierung in Jerusalem, wie sie darauf reagiert.
In Israel hat der Angriff bisher keine Opfer gefordert. Die Militärbasis Netavim in der Negev-Wüste wurde beschädigt, zwanzig bis dreissig Personen sollen insgesamt verletzt worden sein. Ein siebenjähriges Mädchen aus einem Beduinendorf wurde schwer verletzt in ein Spital eingeliefert, nachdem es vom Schrapnell einer Abfangrakete des Abwehrsystems Iron Dome getroffen worden war. Sie befindet sich auf der Intensivstation.
99 Prozent der Raketen und Drohnen wurden laut der israelischen Armee abgefangen, die meisten davon ausserhalb von israelischem Staatsgebiet. Eine kleine Anzahl ballistischer Raketen erreichten Israel, alle iranischen Marschflugkörper und Drohnen konnten abgefangen werden. Es war das erste Mal, dass Iran Israel von seinem eigenen Staatsgebiet aus direkt angreift. Alles deutet darauf hin, dass vorerst keine weitere Attacke Irans folgen wird. Am Morgen teilten die iranischen Streitkräfte mit, der Angriff auf Israel habe all seine Ziele erreicht. Dem iranischen Angriff von Sonntagmorgen war ein mutmasslich israelischer Luftangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus vorausgegangen, bei dem hochrangige Offiziere der iranischen Revolutionswächter getötet wurden.
Zwischen Besonnenheit und Angriffslust
Noch in der Nacht von Samstag auf Sonntag trat Benjamin Netanyahu vor die Kameras. «Wir folgen einem simplen Prinzip», sagte der israelische Ministerpräsident. «Wer uns Schaden zufügt, dem schaden wird. Wir werden uns gegen jede Bedrohung verteidigen, und wir werden das besonnen und bestimmt tun.» Kurz nach Mitternacht Ortszeit rief Netanyahu das Kriegskabinett zusammen und telefonierte in den frühen Morgenstunden mit US-Präsident Joe Biden, um das weitere Vorgehen zu beraten.
Andere israelische Regierungsmitglieder zeigten sich allerdings weniger besonnen. Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, schrieb auf der Plattform X am Sonntagmorgen: «Bisher eine beeindruckende Verteidigung – jetzt brauchen wir einen vernichtenden Angriff.» Ben-Gvir ist kein Mitglied des Kriegskabinetts und hat daher zurzeit nur begrenzten Einfluss.
Von einer operativen Perspektive aus war Israels Verteidigung ein grosser Erfolg: So gut wie alle iranischen Raketen und Drohnen wurden abgewehrt. Nun kommt es allerdings auf die Reaktion der Regierung in Jerusalem an. Sie entscheidet darüber, ob der Nahe Osten in einen regionalen Krieg stürzt.
«Eine komplett neue Dimension»
Laut der israelischen Sicherheitsexpertin Sima Shine hat Iran Israel diese Entscheidung bereits abgenommen: «Iran hat sich dazu entschlossen, gegen Israel Krieg zu führen», sagt die Leiterin der Iran-Abteilung beim israelischen Institute for National Security Studies am Sonntag. «Dies ist eine komplett neue Dimension. Das letzte Mal, dass Israel von einem Staat angegriffen wurde, war 1991 von Saddam Husseins Irak», erinnert sich die frühere Leiterin der Forschungsabteilung des Mossad, Israels Auslandgeheimdienst.
Shine geht daher davon aus, dass Israel auf diesen beispiellosen Angriff antworten wird. «Und wir sollten zurückschlagen», sagt sie. Allerdings plädiert die Iran-Expertin dafür, abzuwarten und vorsichtig vorzugehen. So oder so müsste Israel einen Gegenschlag mit den USA absprechen, die sehr auf Deeskalation bedacht sind. «Sollte Israel zurückschlagen, gehe ich davon aus, dass es verhältnismässig antwortet und ebenfalls militärische Ziele anvisiert», sagt Shine. «Ich gehe nicht davon aus, dass eine israelische Antwort unmittelbar erfolgt.»
Israels strategische Chance
Sollte Israel keinen vollständigen Krieg mit Iran provozieren, könnte Teheran mit der Attacke nicht nur eine operative, sondern auch eine strategische Niederlage erleiden. Denn nicht nur stehen die westlichen Verbündeten wieder fest an Israels Seite, nachdem ihre Kritik wegen der Kriegsführung in Gaza lauter geworden ist. Sondern auch arabische Staaten wie das Nachbarland Jordanien haben mehrere iranische Drohnen über ihrem Luftraum abgeschossen.
«Israel könnte nach diesem Angriff die Sicherheitsarchitektur des Nahen Ostens ändern, so dass Iran als einzige regionale Verbündete seine Stellvertretermilizen behält – das wäre weitaus schlimmer für Iran als jeder israelische Gegenschlag», sagt Sima Shine. Andere Staaten in der Region würden nun erkennen, dass vor allem Iran eine Gefahr für ihre Sicherheit ist. Israel könnte das nutzen, falls es von einem grossangelegten und schnellen Gegenschlag absieht. «Israel bietet sich gerade eine einzigartige strategische Möglichkeit», sagt Shine. «Allerdings weiss ich nicht, ob diese Regierung in der Lage ist, sie zu nutzen.»