Wegen des Gaza-Kriegs haben die judenfeindlichen Vorfälle zugenommen. Der Antisemitismus-Experte Erik Petry ist besorgt über die Positionen der radikalen Linke, weist aber auch auf die Gefahr von rechts hin.
Nur ein kleines Schild zeigt an, dass hier ein Ableger der Universität Basel zu finden ist. Kein grosses Logo wie bei anderen Instituten. Beinahe so, als gehörte das Zentrum für Jüdische Studien nicht richtig zum universitären Betrieb. Oder geht es um Sicherheitsbedenken angesichts all der Emotionen, die der Nahostkonflikt hervorruft?
Solche Fragen ist der Mann gewohnt, der die unscheinbare Türe öffnet. Erik Petry, der aus Kassel stammt, forscht seit 26 Jahren in Basel und hat sich in dieser Zeit einen Namen als Experte für Antisemitismus und jüdische Geschichte gemacht. Der Professor ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung und sitzt im Vorstand der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA).
Herr Petry, die Juso Schweiz haben kürzlich beschlossen, die Kampagne «Boycott, Divestment and Sanctions» (BDS) zu unterstützen. Hat Sie das überrascht?
Nicht wirklich. Ich halte diesen Schritt für sehr unbedacht. Offenbar fehlte bei den Juso das politische Bewusstsein dafür, was damit ausgelöst wird.
Die Juso argumentieren, Boykott sei ein gängiges Mittel, um Druck auf Politik und Wirtschaft auszuüben.
Darüber kann man diskutieren. Gerade die Linke weist allerdings immer wieder darauf hin, dass Boykott die Schwächeren treffe und deshalb kein geeignetes Instrument sei. Bei Israel scheint das kein Argument zu sein. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: In der jüdischen Geschichte hat der Boykott eine ganz andere Bedeutung, man denke nur an die NS-Zeit.
BDS sagt nicht: Kauft nicht bei Juden.
Nicht in dieser Schärfe, aber es schwingt mit. Zum Beispiel, wenn ein Boykott israelischer Kultureinrichtungen gefordert wird. Das ist hochproblematisch. Sind da wirklich israelische Institutionen gemeint, oder geht es im Kern doch um Jüdinnen und Juden?
Und das macht BDS aus Ihrer Sicht zur antisemitischen Bewegung?
BDS greift auch den jüdischen Staat Israel an, indem sie dessen Auflösung verlangt oder Forderungen stellt, die darauf hinauslaufen. Ein Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge hätte beispielsweise diese Folge, weil der Flüchtlingsstatus aufgrund einer rechtlichen Sonderstellung vererbt wird und es um fast sechs Millionen Menschen geht.
Die Juso wiesen in einem Communiqué kürzlich den Vorwurf, sie seien antisemitisch, weit von sich. Wie kann man die legitime Kritik an der Politik Israels von Antisemitismus abgrenzen?
Es gibt die drei D, die einen Anhaltspunkt liefern: Wer Israel dämonisiert, delegitimiert oder auf das Land einen «double standard» anwendet, muss sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Auch in den israelischen Medien gibt es massive Kritik an der Politik Netanyahus, er wird immer wieder zum Rücktritt aufgefordert. Aber natürlich behauptet dort niemand, der Ministerpräsident handle, wie er handle, weil er Jude sei. Allein schon der Begriff «Israel-Kritik» ist antisemitisch, wenn man ihn genau anschaut.
Warum?
In ihm enthalten ist, dass man Israel die Legitimität abspricht: Eigentlich sollte dieser Staat nicht existieren. Auch wenn wir die Expansionsgelüste von Putin klar ablehnen, käme doch niemand auf die Idee, Russland ein Existenzrecht abzusprechen. Niemand spricht von «Russland-Kritik». Oder die USA: Da haben wir jetzt Debatten, wie es sein kann, dass die Amerikaner wieder Donald Trump wählen, sind die alle verrückt? Aber niemand sagt: Vielleicht sollte man die USA auflösen.
Offen fordert ja im Westen kaum jemand, dass Israel von der Landkarte verschwinden soll.
Es wird die Idee von Israel als «safe haven» für die Juden infrage gestellt. Wenn jemand an einer Demonstration «From the river to the sea» schreit, dann schwebt ihm wohl eher kein Land vor, in dem alle gemeinsam friedlich und demokratisch leben.
Es gibt allerdings auch Jüdinnen und Juden, die israelkritische Organisationen wie BDS unterstützen.
Das zeigt doch nur, dass auch die jüdische Gesellschaft heterogen ist. Und nicht so monolithisch, wie sich dies viele Leute vorstellen. Wenn sich aus der Schweiz jemand zu einem Thema völlig wirr äussern würde, würde man ja auch nicht sagen: Das hat ein Schweizer gesagt – also muss es stimmen. Es findet zudem ein konstruktiver innerjüdischer Dialog zu Israel statt, abseits der schrillen Debatten in der Öffentlichkeit.
Welche Rolle spielt die BDS-Bewegung in der Schweiz überhaupt?
In Erscheinung tritt BDS erst seit 2005, doch die Aufforderung, israelische und jüdische Geschäfte zu boykottieren, gab es schon lange vorher. Die Kampagne von BDS spielt eine Rolle, weil sie auf einer Klaviatur spielt, die für jüdische Personen sehr bedrohlich ist – eben mit dieser impliziten «Kauft nicht bei Juden»-Rhetorik. Dieses Gefühl der Angst befördert BDS, auch wenn die Organisation in der Schweiz kaum Einfluss auf die politischen Institutionen hat.
Die Universitäten waren von antiisraelischen Protesten stark betroffen. Wie haben Sie das in Basel selbst erlebt?
Meine Lehrveranstaltungen wurden zweimal massiv gestört. In einem Fall schimpfte eine Person, meine Vorlesung sei völlig einseitig. Ein Gespräch war unmöglich, die Person schrie herum. Auch draussen vor dem Vorlesungssaal gab es eine Protestveranstaltung. Es war unheimlich.
Wie hat sich das ausgewirkt?
Ein Teil meiner Studierenden traute sich aus Angst vor Gewalt im Anschluss nicht, den Vorlesungssaal zu verlassen. Ich habe das alles als äusserst bedrohlich empfunden, auch wenn ich nicht körperlich angegangen wurde. Wir bekamen danach einen Sicherheitsdienst, der die Vorlesung schützte. Trotzdem blieb im Saal eine Atmosphäre des Misstrauens und der Anspannung bestehen. Jedes Mal, wenn sich jemand meldete, den ich nicht kannte, stand die Frage im Raum: Was kommt jetzt?
Die BDS-Unterstützer und die Uni-Demonstranten stehen politisch links. Seit den Terrorattacken vom 7. Oktober 2023 und dem israelischen Angriff auf Gaza ist der linke Antisemitismus oder das, was dafür gehalten wird, besonders im Fokus. Zu Recht?
Es wäre gut, wenn man ihn schon vorher beachtet hätte, dann wäre man vielleicht nicht so überrascht gewesen. Die Idee, dass es auf linker Seite keinen Antisemitismus gibt, ist ein Mythos, von dem man in der Wissenschaft schon lange weiss, dass er nicht stimmt. Nun ist das alles viel sichtbarer geworden.
Auch mit Farbanschlägen wie kürzlich auf das NZZ-Gebäude, auf das Aktivisten ein rotes Dreieck sprühten. Was wollen sie damit sagen?
Das rote Dreieck stammt ursprünglich aus der Zeit der Arabischen Revolte von 1916 bis 1918. Heute ist es ein Kennzeichen der Hamas und wird von ihr in Propagandamaterial oder als Markierung für Angriffsziele verwendet – sowohl für Gebäude als auch für Menschen. Es hat also eine stark aggressiv-gewalttätige Bedeutung und ist nicht einfach ein Alternativsymbol neben der palästinensischen Fahne, auch wenn dort ebenfalls ein rotes Dreieck zu finden ist.
Woher kommt der linke Antisemitismus?
Er speist sich aus zwei Quellen: Einerseits werden Jüdinnen und Juden sehr stark mit Formen des Kapitalismus identifiziert, das ist ein altes Motiv. Da geht es um das «Finanzjudentum», um heimliche Machtzirkel von der amerikanischen Ostküste, die angeblich die Weltherrschaft anstreben. Und zweitens gibt es eben antisemitische Muster im Umgang mit dem Staat Israel.
Die Linke galt früher als Unterstützerin Israels.
Ja, sie stand dem Land dank der Kibbuzbewegung und während der Zeit linker Regierungen wie jener von Ben-Gurion deutlich näher.
Kann man den Zeitpunkt bestimmen, zu dem das gekippt ist?
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 begann sich der linke Blick auf Israel zu ändern. Das hatte auch damit zu tun, dass Israel ab diesem Zeitpunkt die Kontrolle über die besetzten Gebiete hatte. Und dort in den siebziger Jahren mit dem Bau der ersten Siedlungen begann. Israel war damit nicht mehr in der Rolle des Schwächeren, es wurde vom David zum Goliath. Zum angeblich aggressiven kolonialen Aggressor. Das führte zu einer grossen Enttäuschung, gerade bei jenen, die einst bei den «guten» Israeli im Kibbuz gewesen waren. Heute ist ein differenzierter Diskurs zu Israel in Teilen des linken Mainstreams kaum mehr möglich.
Über den rechten Rassismus spricht man derzeit weniger. Stellt er für Juden heute die kleinere Bedrohung dar?
Die jüdische Gemeinschaft weiss, dass diese Gefahr nicht einfach verschwunden ist, auch wenn diese Form des Antisemitismus derzeit vielleicht weniger sichtbar ist. Rechtsextreme Gruppen sieht man kaum an Demonstrationen mit Israel-Bezug – natürlich auch, weil sie keine Lust haben, zusammen mit Linksradikalen und Muslimen auf die Strasse zu gehen . . .
Ist für neue Bewegungen von ganz rechts, etwa die Identitären, der Antisemitismus weniger zentral als für die «klassischen» Neonazis mit Glatze und Springerstiefeln?
Vielleicht wurde dieses Element durch die Abneigung gegenüber Muslimen oder die Wokeness etwas in den Hintergrund gedrängt. Für mich ist aber die Frage entscheidend, ob solche Gruppen die jüdische Bevölkerung als genuinen Teil der Schweiz anschauen. Da habe ich grosse Zweifel. Sie denken völkisch – und in dieser Ideologie haben Juden schlicht keinen Platz.
Früher gab es antisemitische Aussagen auch von SVP-Politikern, jetzt solidarisiert sich die Partei mit Israel und wirft den Linken Antisemitismus vor. Ist die SVP geläutert?
Ich würde nicht darauf wetten, dass die gesamte SVP immer für die jüdische Gemeinschaft einsteht. Im letzten Herbst stritt ich mit der Jungen SVP Baselland, nachdem sie ein Plakat präsentiert hatte, das für eine Kinderschutzinitiative warb, die das «Gender-Monster» stoppen sollte.
Was hatte es damit auf sich?
Das Plakat zeigt den grünen Arm eines Monsters, das eine Armbinde in Regenbogenfarben und mit Genderstern trägt und nach unschuldigen Kindern greift. Das ist ein klassisches Motiv aus dem Antisemitismus. Der Artikel dazu erschien am 7. Oktober in der «Basler Zeitung», dem Tag der Anschläge. Da interessierte die Debatte natürlich bald niemanden mehr. Ich muss aber auch sagen: Es gibt in der SVP viele, die sich als gegen den Antisemitismus und für Israel kämpfend verstehen, das darf man durchaus ernst nehmen.
Unterscheidet sich die SVP da von der AfD?
Ja, obwohl manche der SVP-Kampagnen auf einem ähnlichen Gedankengut basieren. Alle erinnern sich an Gaulands Aussage zum Nationalsozialismus als «Vogelschiss der Geschichte». Die AfD ist sicher kein verlässlicher Partner für die jüdische Gemeinschaft – auch wenn es sogar die Gruppe «Juden in der AfD» gibt. Interessanterweise passen Gaulands Aussagen bestens zum Ruf von Linksextremen, die fordern: «Free Germany from Jewish guilt.» Deutschland soll sich also von der eigenen Geschichte lösen und sich nicht mehr von der Erinnerung an die Shoah leiten lassen.
Sind der linke und der rechte Antisemitismus im Kern das gleiche Phänomen?
Für mich ist Antisemitismus die Übernahme von alten Vorurteilen und Stereotypen als Fakt in die Gegenwart, und dies immer in herabwürdigender Absicht. Vordergründig unterscheiden sich zwar die Argumentationslinien je nach politischer Strömung. Aber letztlich geht es bei allen Spielarten des Antisemitismus um das Absprechen der Menschlichkeit, der Zugehörigkeit. Und es schwingt eine Vernichtungs- und Erlösungsphantasie mit.
Was meinen Sie damit?
Antisemiten glauben, dass, wenn erst einmal die Juden weg sind, alles gut wird. Bei den Nazis war das völlig offensichtlich, aber die Idee besteht bis heute und in Teilen der Linken, wenn auch oft in subtilerer Form. Denken Sie an das Gedicht «Was gesagt werden muss», das Günter Grass ein paar Jahre vor seinem Tod verfasst hat. Darin wirft er Israel vor, den Weltfrieden zu gefährden.
Immer wieder ist auch von einem «Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft» die Rede – etwa im Zusammenhang mit den Vorfällen in Davos. Was ist damit gemeint?
Wir stellen fest, dass in der Gesellschaft viele Vorstellungen über Juden – und ich sage jetzt bewusst Juden und nicht Jüdinnen – existieren, die sich aus gewissen Quellen speisen und die zu gewissen Handlungen führen. Etwa, dass dann eine Betreiberin eines Hotels ein Schild aufhängt, auf dem sie die Juden zum Duschen auffordert. Die Vorurteile werden dadurch verstärkt, dass jeder sofort einen jüdisch-orthodoxen Mann erkennt. Das ergibt einen kollektiven Blick auf «die» Juden. Bezeichnend ist auch, welche Zahlen kommen, wenn ich Schulklassen schätzen lasse, wie viele Jüdinnen und Juden in der Schweiz leben.
Es sind nicht einmal 20 000 . . .
. . . aber ich habe schon gehört, es soll eine Million sein! Man überschätzt also die Zahl der Jüdinnen und Juden massiv.
Besteht nicht die Gefahr, dass der Antisemitismusvorwurf sich abnutzt, wenn man ihn zu viel benutzt? Wenn man ihn nicht reserviert für wirklich gravierende antijüdische Vorfälle oder Aussagen und ihn stattdessen für Dinge braucht, die eher in einem Graubereich liegen?
Ich würde nicht in gravierende und weniger gravierende Vorfälle unterteilen. Der Idee «weniger gravierend» liegt die Vorstellung zugrunde, antisemitisch sei ein Vorfall nur, wenn er höchst gewalttätige Formen annehme, im Grunde sei nur Auschwitz Antisemitismus. Das ist falsch. Ein antisemitischer Vorfall ist ein antisemitischer Vorfall, es gibt kein «ein bisschen antisemitisch». Richtig ist, dass alle Fälle einzeln angeschaut werden müssen, also eine qualitative Prüfung stattfinden muss. Damit wird garantiert, dass es im Diskurs nicht zu pauschalen Anschuldigungen kommt.
Wenn jemand sagt, Juden seien so intelligent, so witzig, so kreativ: Sind das immer vergiftete Komplimente?
Besonders die Aussage, Juden seien so intelligent, ist zumeist keine wertneutrale Feststellung. Sondern insofern ein Pseudokompliment, als wir dieses Motiv bereits aus dem Mittelalter kennen. Es wurde und wird damit impliziert, dass «die Juden» den anderen überlegen seien, weil sie intelligenter seien, eigentlich «naturgegeben». Und dass sie dies nutzen würden – jetzt kommt das Gift –, um die anderen zu hintergehen oder sie zu beherrschen.
Der Antisemitismus ist ein jahrtausendealtes Phänomen, er muss also, soziologisch gesprochen, irgendeine Funktion haben. Geht es nur darum, jederzeit einen praktischen Sündenbock für alles zu haben?
Der Antisemitismus ist hoch variabel und flexibel einsetzbar. Dies als Instrument, um die Welt zu erklären und damit auch jemanden verantwortlich machen zu können. Sei es nun der böse Kapitalist oder der böse Kommunist. Es gibt keinen neuen Antisemitismus, es ist immer das alte Phänomen in neuen Formen.
Wieso bekamen gerade die Juden diese Rolle zugewiesen?
Weil die jüdische Gruppe innerhalb der Gesellschaft existiert – sie steht nicht ausserhalb! –, aber als isoliert wahrgenommen wird, als abgekapselt. Das zeigt sich, wenn man von «Juden in der Schweiz» spricht. Da klingt an, dass diese Menschen keine Schweizer sind, auch wenn sie den Schweizer Pass haben und ihre Familien schon seit Jahrhunderten hier leben. Ein alter Zürcher Jude hat mir einmal gesagt, wie er die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Juden und Jüdinnen wahrnimmt: «Wir sind Schweizer, aber bleiben immer Fremde.» Als Sündenböcke eignet sich eine solche Gruppe besser als Leute, die ausserhalb der Gesellschaft stehen und die man vermeintlich jederzeit loswerden kann.
Teile der jüdischen Gemeinschaft isolieren sich aktiv vom Rest der Gesellschaft.
Auch andere religiöse Gruppen isolieren sich vom Rest der Gesellschaft.
Über den islamischen Antisemitismus haben wir noch nicht gesprochen. Ist er nicht der gefährlichste für die Juden in der Schweiz oder Deutschland?
In Verbindung mit stark antiisraelischen Haltungen ist er in gewissen islamischen Kreisen tatsächlich verbreitet. Es gibt aber auch islamische Organisationen, die versuchen, den Antisemitismus zu bekämpfen und Muslime und Juden zusammenzubringen. Denn letztlich haben diese beiden Gruppen als Minderheiten vergleichbare Herausforderungen in der heutigen Schweizer Gesellschaft. Beide müssen zum Beispiel ständig erklären, warum sie auch dazugehören.
Sie beschönigen die Situation.
Nein, ich will nichts beschönigen. Es gibt Gewalttaten, etwa der Messer-Mordanschlag in Zürich vom letzten Frühling. Seit dem 7. Oktober 2023 steigt in den jüdischen Gemeinschaften die Angst vor Anschlägen. Aber man kann nicht sicher sein, ob die physische Bedrohung nicht irgendwann auch von linken oder rechten Antisemiten kommt. Das wäre dann eine völlig neue Situation. Der Historiker Jacques Picard hat einmal gesagt, es gebe hierzulande keinen Radau-Antisemitismus. Tatsächlich zeigt sich der Antisemitismus in der Schweiz bis jetzt subtiler.
Ist die Hoffnung, dass sich der Antisemitismus irgendwann ausmerzen lässt, naiv?
Ich frage meine Studenten manchmal: Vor wem hatte die Schweiz in den fünfziger Jahren am meisten Angst? Meistens nennen sie dann die Sowjetunion – und sind ganz erstaunt, wenn ich sage: Nein, es waren die Italiener. Aus heutiger Sicht ist das kaum zu glauben. Aber man muss nur die Filme und Artikel aus jener Zeit betrachten. Diese Angst vor den Italienern ist völlig verschwunden. Aber der Antisemitismus? Der verschwindet nie. Das ist im Grund eine total pessimistische Aussage über meine Arbeit. Ich muss mich dann fragen: Wofür mache ich das hier eigentlich?
Und was antworten Sie sich selbst?
Es bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, als weiterhin gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Vor zweieinhalb Jahren haben zwei mit mir eng befreundete jüdische Familien fast zeitgleich ein Mädchen bekommen, beide heissen Alma. Ich möchte alles dafür tun, dass diese beiden Almas dereinst nicht mehr mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert werden, die wir uns heute anhören müssen.