Wunder sind noch möglich in der Schweiz: eine Sozialversicherung, welche die Beiträge senkt. Das könnte bei der Arbeitslosenversicherung in einigen Jahren der Fall sein, falls es bis dann keinen starken Wirtschaftseinbruch gibt.
Die Arbeitslosenversicherung (ALV) ist ein klassisches Ventil für Konjunkturschwankungen. Sie federt eine schlechte Wirtschaftslage durch mehr Auszahlungen von Arbeitslosengeldern ab, und in guten Zeiten schreibt sie dafür Überschüsse. Für 2023 weist die ALV laut dem am Montag publizierten Rechnungsabschluss einen Überschuss von fast 2,8 Milliarden Franken aus. Der Grund ist klar: Die Quote der registrierten Arbeitslosen war im vergangenen Jahr mit 2 Prozent die tiefste seit über 20 Jahren.
Auch das Vorjahr hatte schon einen Überschuss von über 2 Milliarden Franken gebracht. Die ALV weist nun für Ende 2023 Reserven (Eigenkapital) von rund 6,8 Milliarden Franken aus. 2010 hatte die Versicherung noch Schulden von über 6 Milliarden (vgl. Grafik).
Diverse Faktoren erklären die Trendumkehr: besonders die Erhöhung der Lohnabzüge ab 2011 und der Rückgang der Arbeitslosenquoten. Die Lohnabzüge stiegen 2011 von 2 auf 2,2 Prozent (je zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlt). Diese Abzüge gelten für Jahreslöhne bis 148 200 Franken pro Jahr. Für Lohnteile über diesem Schwellenwert erhob die ALV zudem ab 2011 einen «Solidaritätsbeitrag» (sprich: Sondersteuer) von 1 Prozent. Diese Abgabe hatte Steuercharakter, weil die Betroffenen im Fall der Arbeitslosigkeit keine zusätzliche ALV-Gelder bekommen hätten. Diese Hochlohnsteuer machte pro Jahr bis zu 400 Millionen Franken aus; sie ist Ende 2022 wegen der bis dann wieder guten Finanzlage der ALV aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen automatisch ausgelaufen.
Zweiseitige Ventilklausel
Das Gesetz enthält eine Ventilklausel zur Finanzierung der ALV. Übersteigen die Schulden am Ende eines Jahres 2,5 Prozent der von der Beitragspflicht erfassten Lohnsumme, muss der Bundesrat innert Jahresfrist eine Gesetzesrevision zur Neuregelung der Finanzierung vorlegen; zuvor muss er die Lohnabzüge um bis zu 0,3 Prozentpunkte erhöhen. Und übersteigen die Reserven der ALV abzüglich das nötige Betriebskapital von 2 Milliarden Franken 2,5 Prozent der massgebenden Lohnsumme, muss der Bundesrat innert eines Jahres die Beitragssätze senken.
Ohne starken Anstieg der Arbeitslosigkeit könnte es in einigen Jahren zu einer Beitragssenkung kommen. 2023 war eine Lohnsumme von rund 360 Milliarden Franken von der ALV-Beitragspflicht erfasst. 2,5 Prozent davon wären etwa 9 Milliarden Franken. Zuzüglich des nötigen Betriebskapitals von 2 Milliarden Franken wären somit die Beitragssätze bei einem Kapitalpolster ab rund 11 Milliarden Franken zu senken.
Bundesrat will zugreifen
Bei den derzeitigen Beitragssätzen dürfte die ALV Überschüsse schreiben, solange die Arbeitslosenquote unter 2,8 bis 3 Prozent liegt. Die Bundesökonomen prognostizieren im Vergleich zu 2023 eine leicht steigende Arbeitslosigkeit, doch die Quoten dürften laut der jüngsten Prognose mit 2,3 Prozent für 2024 und 2,5 Prozent für 2025 weitere deutliche Überschüsse ermöglichen.
Laut einer Anfang März publizierten Simulationsrechnung des Bundes mit Annahme einer Arbeitslosenquote in den nächsten Jahren von jeweils 2,8 Prozent würde die ALV Ende 2027 bei den Reserven den Schwellenwert überschreiten und damit den Anstoss zu einer Beitragssenkung geben. Doch die zurzeit gute Finanzlage der ALV weckt Begehrlichkeiten. Dies nicht zuletzt beim Bund selber, der angesichts massiv steigender Ansprüche für Zusatzausgaben unter starkem Finanzdruck steht.
So hat der Bundesrat Anfang März ein Gesetzesprojekt mit Massnahmen zur Entlastung der Bundeskasse ab 2025 ans Parlament geschickt. Zu den vorgeschlagenen Massnahmen gehört die Reduktion des Bundesbeitrags an die ALV um total 1,25 Milliarden Franken für die Periode 2025 bis 2029. Laut dem Vorschlag soll der sonst übliche Bundesbeitrag 2025 ganz wegfallen und die Bundeskasse damit um etwa 600 Millionen Franken entlasten. Das würde laut der Simulationsrechnung des Bundes bei den ALV-Reserven das Erreichen des Schwellenwertes zur Auslösung von Beitragssenkungen um ein Jahr verzögern.
Immerhin kann der Bundesrat eine halbwegs valable Rechtfertigung für das geplante Manöver vorbringen: Er hat die ALV während der Corona-Krise mit Sonderbeiträgen von total rund 16 Milliarden Franken direkt unterstützt und damit eine sonst nötige Erhöhung der Lohnbeiträge verhindert.
Alles für die AHV?
Auch die Gewerkschaften haben bei ihrer eifrigen Suche nach Geldquellen für die jüngst beschlossene Erhöhung der AHV-Renten die Arbeitslosenversicherung entdeckt. Das Motto dabei: Da die ALV in absehbarer Zeit die Lohnabzüge senken könne, solle man im Gegenzug diese Beiträge in die AHV umpolen. Das würde allerdings bei weitem nicht reichen. Und ohnehin ist dies leere Rhetorik: Im Kern geht es nur um eine Bekräftigung der alten Gewerkschaftsforderung nach höheren Lohnabzügen für die AHV. Wenn die Arbeitslosenversicherung ungefähr zeitgleich die Lohnbeiträge senken könnte, wäre das ein Zufall, der mit der AHV nichts zu tun hätte. So hatten in der Vergangenheit Erhöhungen der Lohnabzüge durch die Arbeitslosenversicherung nicht zu Gewerkschaftsforderungen nach einem Ausgleich via Senkung der AHV-Lohnabzüge geführt.
Auch in Zukunft wird es kaum solche Forderungen geben, falls die ALV wegen stark steigender Arbeitslosigkeit die Lohnabzüge wieder erhöhen müsste. Eine solche Erhöhung ist mittelfristig gut möglich: Eine Erhöhung der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt würde das Jahresergebnis der ALV um etwa 3 Milliarden Franken verschlechtern. Die Lohnabzüge für die ALV lagen bis in die frühen 1990er Jahre unter einem Prozent und stiegen dann als Folge der Krise in jenem Jahrzehnt bis auf 3 Prozent. In den 2000er Jahren sank der Abzug in zwei Schritten auf 2 Prozent, bis 2011 die bisher letzte Erhöhung auf 2,2 Prozent folgte.