Der «Oppenheimer»-Film zeigt kein einziges Bild der Verwüstung von Hiroshima und Nagasaki. Diese dokumentierte hingegen der US-Offizier Daniel McGovern schon 1945. Dann kam die Zensur.
Sie fahren mit ihren Jeeps durch leere Strassen, die Soldaten der amerikanischen Filmeinheit. Auch auf den Feldern ist kein Mensch zu sehen. Je mehr sich die Männer der Stadt nähern, desto weniger Bäume und Gräser tragen Grün; die Natur sieht aus wie gebleicht. Es ist der 9. September 1945 um sechs Uhr morgens.
Dann plötzlich, von einer Anhöhe aus, liegt Nagasaki vor ihnen. Oder wo Nagasaki bis vor vier Wochen stand, eine japanische Industriestadt auf einer Insel im Südwesten des Landes. Am 9. August hatte eine B-29 die Atombombe «Fat Boy» über der Stadt abgeworfen, sie explodierte mit einem gellenden Blitz und vernichtete Stadt und Menschen innert Sekunden. «Die Stadt sah aus, als hätte ein riesiger Amboss sie plattgemacht», wird der Chef der Filmgruppe später sagen. Es ist Oberstleutnant Daniel McGovern, Kriegsfotograf im Auftrag der amerikanischen Armee.
Wo sich in Nagasaki Häuser erhoben, liegt Geröll. An den Wänden, die noch stehen, kann man die Silhouetten der Atomisierten sehen. Vor einer Schule liegen Hunderte von Kinderleichen, viele bereits skelettiert. Die Strassen sind von Toten gesäumt, in den Ruinen liegen sie überall. Ihre Haut hängt in Fetzen, ihre Körper sind mit Brandwunden übersät. Wenn sie Glück hatten, starben sie sofort oder bald. Je länger sie lebten, desto mehr litten sie.
Anständig und aufständisch
Daniel McGovern leitet diese erste amerikanische Erkundung in den zerstörten Städten Hiroshima und Nagasaki. McGovern ist fast zwei Meter gross und ein gmögiger Typ, weshalb ihn alle liebevoll «Big Mack» nennen. Er strahlt die Autorität eines Offiziers aus, ohne seinen Vorgesetzten gegenüber in Unterwürfigkeit zu verfallen. Mit seinem Schnauz und dem gut geschnittenen Gesicht erinnert er an den britischen Schauspieler David Niven, der sich auf die Rolle des Gentlemans verstand. Und zugleich hat er etwas vom Piratendarsteller Errol Flynn. Beides, Anstand und Aufstand, passen zu seinem Charakter.
Daniel McGovern, 1909 als Sohn eines katholischen Polizisten in einer irischen Kleinstadt geboren, erlebt den irischen Unabhängigkeitskrieg, zieht in die USA und verbringt den Zweiten Weltkrieg als Kriegsfotograf mit Offiziersgrad. Er fliegt bei Kampfeinsätzen amerikanischer Bomber über deutsche Städte mit, wird zweimal abgeschossen, überlebt, macht weiter und absolviert unzählige Missionen.
Aber das, was er in Nagasaki und Hiroshima antrifft, übersteigt alle Vorstellungen über die Zerstörungsmacht der Vernichtung. Und macht aus einem loyalen Offizier einen leidenschaftlichen Kriegsgegner. McGovern hätte ein paar Wochen in Japan bleiben sollen; er bleibt neun Monate lang, arbeitet mit japanischen Fotografen zusammen und begegnet den Einheimischen mit solchem Respekt, dass die Regierung ihn später mehrmals nach Japan einladen wird.
Die japanischen Ärzte sind hilflos
Wie der Amerikaner von der Verzweiflung der japanischen Ärzte in Hiroshima erfährt, das zeigt schon 2015 der bewegende Dokumentarfilm «Als die Sonne vom Himmel fiel» der schweizerisch-japanischen Regisseurin Aya Domenig über ihren Grossvater, der als Chirurg in Hiroshima half: Die Sieger haben die Verlierer nach dem Bombenabwurf nicht einmal darüber informiert, was die nukleare Strahlung am menschlichen Körper anrichtet. Die Ärzte und Krankenschwestern können also nicht verstehen, warum ihre Patienten unabhängig davon, wie schwer ihre Verbrennungen sind, während Tagen, Wochen und Monaten unter Qualen verenden.
Insgesamt kommen durch die Bomben von Hiroshima und Nagasaki über 200 000 Menschen ums Leben. Und wer nicht stirbt, wird von der japanischen Gesellschaft gemieden, weil er als Überlebender an die Demütigung der Niederlage erinnert. Der Philosoph Günther Anders, der sich intensiv mit der Atombombe auseinandersetzt, nennt Hiroshima den Beginn einer neuen Zeitrechnung: Zum ersten Mal hätten Menschen gezeigt, dass sie die Menschheit vernichten könnten.
Mehrere Wochen lang dokumentiert McGovern mit seinen amerikanischen und japanischen Kollegen die Verwüstungen der beiden Städte. Als die amerikanische Heeresführung Filme und Fotos einfordert, realisiert er, dass sie nicht daran denkt, das Material öffentlich zu machen. Sie wird es im Gegenteil als geheim klassifizieren und vor der amerikanischen Öffentlichkeit während Jahrzehnten verstecken. Die Armeespitze befürchtet, amerikanische Zivilisten könnten von den Bildern über die Verheerungen schockiert sein.
Waren die Bomben nötig?
Die Sorge ist wohl unbegründet. 1946 geben über 85 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner an, den Einsatz der Atombomben zu befürworten. Spätere Umfragen bestätigten diese Haltung. Die Befragten übernehmen Präsident Trumans Beschwichtigung, die Atombomben hätten den Krieg verkürzt und massive amerikanische Verluste verhindert. Ausserdem hat der japanische Angriff auf Pearl Harbor in Amerika grossen Hass auf Japan geschürt und Rachegelüste ausgelöst.
Dabei ist den US-Militärs schon im Sommer 1945 klar, dass Japan militärisch erledigt ist. Auch wenn die Truppen im Namen des Kaisers erbitterten Widerstand leisteten und die Kamikaze-Flugzeuge grosse Schäden anrichteten. Die Atombomben dienen vor allem dazu, die Russen einzuschüchtern.
Solche Einschätzungen werden im Oscar-prämierten «Oppenheimer»-Film von Christopher Nolan angedeutet. Aber der Film zeigt kein einziges Bild der Zustände, die McGovern und seine Leute in über 100 000 Fotografien und Filmen belegen. Damit führt Nolans Film weiter, was McGovern während Jahrzehnten erlebt hat: Seine Bilder verschwanden oder wurden vernichtet, weil man der amerikanischen Bevölkerung die Wahrheit nicht zumuten wollte. Glücklicherweise traute McGovern der Heeresführung nie und zog mit seinen japanischen Kollegen Kopien der Aufnahmen; wäre ihre Arbeit aufgeflogen, wären sie wegen Hochverrats hingerichtet worden.
Als die Bilder von Hiroshima und Nagasaki in den späten sechziger Jahren vom Kongress endlich freigegeben werden, kann McGovern mit seinen Kopien die verschwundenen Originale ersetzen. Eine kleine, aber fassungslose amerikanische Öffentlichkeit lässt sich mit dem atomaren Grauen konfrontieren. Die grosse Mehrheit ignoriert die Aufnahmen und bleibt bei ihrer Meinung, der Bombenabwurf sei berechtigt gewesen. Im Dezember 2005 stirbt Daniel McGovern an Krebs, aber mit 96 Jahren: ein Kämpfer bis zuletzt.