Vor sechzig Jahren verzauberten die Beatles in zwanzig Minuten Amerika. Der Dokumentarfilm «The Beatles 1964» zeigt, wie sie das Land veränderten, dem sie vieles verdankten.
«Ihr werdet gleich vor Millionen von Amerikanern auftreten», sagt der Kameramann zu John Lennon und fragt: «Was geht dir durch den Kopf?» Dieser schaut ihn an: «Do you really wanna know?»
Dann betreten die Beatles die Bühne. Ed Sullivan kündet sie an, Amerikas beliebter Showmaster. Im Saal schreien die Mädchen und rufen die Buben. Die Musiker schauen sich kurz an, Paul McCartney macht sein: «One, two, three, four», und die Band legt los. Es ist der 7. Februar 1964 im CBS-Studio in Midtown Manhattan. Fünf Songs und eine Sendung später haben die Engländer Amerika verzaubert.
Unerhörte Akkorde
Gegen 5000 Girls und ein paar Boys haben sie am Flughafen erwartet. Mehr als 50 000 Menschen haben sich für die knapp 700 Plätze der Ed-Sullivan-Show beworben. Am Fernsehen verfolgen über 70 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ihren Auftritt. Sogar Einbrecher hätten eine Pause gemacht, wird George Harrison später sagen. Zwei Monate später belegen die Songs der jungen Engländer die ersten fünf Plätze der amerikanischen Billboard-Charts, zwölf ihrer Lieder erreichen die Top 100. Ungebrochene Rekorde bis heute. Um dieses mediale Grossereignis dreht sich «The Beatles 1964», der neue, von Martin Scorsese mitproduzierte Dokumentarfilm von Martin Tedeschi.
Was an ihrem ersten amerikanischen Auftritt auffällt und sich bei ihrem Konzert in Washington zwei Tage später bestätigen wird: wie unbekümmert sie auftreten; welche Fröhlichkeit sie verbreiten; und wie mitreissend ihre Musik bereits klingt. Und das trotz der Banalität ihrer frühen Texte, die wie Kinderverse daherkommen. «Die Beatles wollen deine Hand halten», wird der Schriftsteller Tom Wolfe notieren, «die Rolling Stones deine Stadt abbrennen.»
An der musikalischen Originalität der Beatles änderte das nichts. «Ihre Akkorde klangen unerhört», erkannte der junge Bob Dylan. Der Beat-Poet Allen Ginsberg war so begeistert, dass er öffentlich zu ihrer Musik tanzte. Tausende junger Amerikaner beschlossen, eine Band zu gründen. Selbst die professionellen Songwriter von Motown in Detroit und der Schreibwerkstatt des New Yorker Brill Buildings reagierten überrascht auf die Akkordfolgen, Harmonien und Rhythmuswechsel der vier Autodidakten.
Den Fans war das egal. Für sie vertonte die Musik das Glück des Lebendigseins. «Bei uns herrschte Dunkelheit, dann ging das Licht an», erzählt der Satiriker Joe Queenan im Film über das erste Mal, als er «She Loves You» am Radio hörte. Die Dunkelheit ergab sich aus einer kollektiven Trauer. Keine drei Monate vor dem Besuch der Beatles war John F. Kennedy in Dallas erschossen worden. Die Ermordung des jugendlichen Präsidenten, der mit seinem Einsatz für die Bürgerrechte ein tolerantes Amerika verkörpert hatte, löste landesweite Schockwellen aus.
Obwohl Kennedys Vermächtnis später kritischer gesehen wurde, seine Beschleunigung des Vietnamkrieges zum Beispiel, hatten sein Charisma und sein jugendlicher Optimismus die Welt euphorisiert. Nach den biederen fünfziger Jahren unter Dwight Eisenhower hatte John F. Kennedy ein aufregendes Jahrzehnt versprochen. Sein jäher Tod versetzte Amerika in eine Depression. Zu Recht sagt Paul McCartney im neuen Film, die Beatles hätten mitgeholfen, das Land aus seiner Trauer zu erlösen. Dieses Land, dem sie so viel verdankten.
Singende Komiker
Wie passend, dass der grösste New Yorker Flughafen in John F. Kennedy International Airport umbenannt worden war, kurz bevor die Beatles dort landeten. Im JFK gaben sie auch ihre erste Pressekonferenz, die bis heute unvergessen ist. Die Journalisten waren mit der Absicht zum Flughafen gefahren, die vier englischen Emporkömmlinge kaputtzuschreiben. Stattdessen brachten John, Paul, George und Ringo die abgekochten Zyniker zum Lachen. Das ging dann so:
Singt was für uns!
John Lennon: Erst müssen wir Geld sehen.
Mögt ihr Beethoven?
Ringo Starr: Sehr, vor allem seine Gedichte.
Die Stadt Detroit plant eine Kampagne, um alle Beetles (Käfer) auszulöschen.
Paul McCartney: Wir planen eine Kampagne, um die Stadt Detroit auszulöschen.
So etwas hatte das auf Gefälligkeiten ausgerichtete, plüschige Auftritte seiner Stars gewohnte amerikanische Showbusiness noch nie erlebt. Man hat die Beatles oft als singende Komiker bezeichnet, die Monty Pythons der Sechziger.
Tatsächlich hielt ihr Humor sie und ihren brillanten Produzenten George Martin ebenso sehr zusammen wie die gemeinsame proletarische Herkunft. «Liverpool ist eine Stadt, die Aufschneider nicht ausstehen kann und in der sich jeder für einen Komiker hält», hat George Harrison einmal gesagt.
Das lässt sich auch als Überlebensstrategie lesen. Wie alle Hafenstädte galt Liverpool als tough. Ausserdem war die Stadt noch von den Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs gezeichnet. Das alles mag den Beatles geholfen haben, sich in der ebenso rauen Hafenstadt Hamburg durchzusetzen. Während über zweier Jahre traten sie mehrmals in verschiedenen Klubs von St. Pauli auf, dem verkommenen, von Sex und Gewalt gezeichneten Hafenquartier.
Nächtelang spielten sie vor betrunkenen Matrosen, Huren, Zuhältern und Schlägern. Manchmal zogen sie ein Stück zwanzig Minuten in die Länge. Solche Nächte waren nur mit Bier und Amphetamin auszuhalten. Dann wieder hängte sich Lennon eine Klobrille um und marschierte im Stechschritt über die Bühne. Wer solche Zustände übersteht, lässt sich von amerikanischen Kameras nicht beeindrucken.
Die amerikanische Presse fiel trotzdem über die Beatles her. «Grauenhaft anzusehen, desaströs anzuhören», schrieb «Newsweek». «Inkohärent und formelhaft», fand die «New York Times». «Ein einziger Witz», bilanzierte die «Chicago Tribune». Andere sagten Schlimmeres.
Paradoxerweise lässt sich der Hohn des Establishments als weitere Erklärung dafür lesen, warum sich Amerika in die Beatles verliebte: Die Engländer waren so unverdrossen jung, sie klangen anders, und sie wirkten mit ihren langen Haaren wie eine coole Alternative zur angelsächsisch-protestantischen Männlichkeit mit Krawatte, Hornbrille und Bürstenhaarschnitt. Die Beatles verträten eine weichere, androgyne Mentalität, sagte die Feministin Betty Friedan damals: «Sie fühlen sich stark genug, um ihre Gefühle zu zeigen.»
Schallplatten aus Harlem
Was «The Beatles 1964» von anderen Dokumentationen unterscheidet, ist nicht nur das exzellente Originalmaterial, das die Brüder Albert und David Maysles mit ihren leichten Kameras gedreht haben, inspiriert vom direkten Stil des Cinéma Vérité. Sie lässt auch afroamerikanische Künstler wie Smokey Robinson oder Ron Isley zu Wort kommen.
Die Beatles hätten als erste weisse Band gesagt, erzählt Robinson, dass sie mit schwarzer Musik aufgewachsen seien. Das mag heute selbstverständlich klingen, damals war es ungewöhnlich, zumindest für Amerika. Das Land praktizierte noch eine strenge Segregation. Auch darum kannte das weisse Publikum die schwarzen Künstler seiner Heimat bestenfalls von ihren Hits, Musiker wie Chuck Berry, Little Richard, Bo Diddley, Willie Dixon oder Ray Charles.
In England dagegen wurden diese Musiker verehrt, und die jungen Bands versuchten am Plattenspieler, ihre Songs zu lernen. «Die haben doch schon alle», hatte sich George Harrison auf dem Flug nach New York gesorgt, «warum brauchten die uns noch?» In ihren Konzertverträgen machte die Band klar, nicht vor einem segregierten Publikum aufzutreten. Ihre Stunden im Flugzeug verbrachten sie am liebsten mit den schwarzen Kolleginnen und Kollegen, die in ihrem Vorprogramm auftraten.
Die Sängerin Ronnie Spector erinnert sich im Film daran, wie sie die Beatles aus ihrem Hotel befreite, das von Fans und Polizisten umstellt war. Als Erstes fuhr sie die vier nach Harlem. Dort kauften sie erst einen lokalen Plattenladen leer, dann suchten sie einen American Diner auf. «Was sie an Amerika liebten?», fragt die Amerikanerin: «Alles.»
David Tedeschi: «The Beatles 1964». Dokumentation, 1:46 Stunden, auf Disney+.