Tom Tykwer phantasiert von einer guten syrischen Seele, die Deutschland therapiert: «Das Licht» ist der perfekte Film für die Anständigen, die gegen rechts auf die Strasse gehen und sich im Kino aufwärmen wollen.
Der superwoke Gen-Z-Teenager gibt den Boomer-Eltern den Tarif durch. «Wir sind das Musterbeispiel einer Familie, an der die Welt zugrunde geht», beginnt die 17-Jährige, kaum zu Tisch, ihre Tirade. Egoistisch sei man, «ignorant und verschwenderisch und vulgär», wütet sie weiter, als ihr gerade die Nudeln geschöpft werden.
Eine nette Familienzusammenkunft hätte es werden sollen. Die Mutter hat auch den videospielsüchtigen Sohn aus seinem Zimmer gescheucht. Das kleine afrikanische Stiefkind ist ebenfalls da. Endlich einmal alle zusammen am Tisch, dachte sich Milena Engels (Nicolette Krebitz).
Doch der Abend geht schon schlecht los, als Milenas unfähiger Gatte nur «Nudeln ohne alles» zustande bringt. Dann der Ausbruch der Tochter. Sie war von Donnerstag bis Samstag feiern, aber sie hat noch Energie.
Sich souverän der einschlägigen Buzzwords bedienend, wirft sie der Familie vor, «hemmungslos alle ‹privileges› von weissen reichen Mehrfachverdienern in der westlichen Welt» zu geniessen. «Wir sind der Grund, dass die Welt am Arsch ist. Wir. Nicht die andern, auf die wir immer alles abschieben wollen.»
Kampagnen für eine bessere Welt
Der wütende, burschikose Teenager trägt den Namen Frieda, könnte aber auch Tom heissen. Tom Tykwer. Aus der Figur spricht hörbar der Regisseur, der sich im Berlinale-Eröffnungsfilm «Das Licht» an einer dysfunktionalen deutschen Familie abarbeitet. So weit kann man ihm folgen.
Der Vater Tim Engels ist Werber. Vermutlich im Auftrag von NGO oder linken Parteien entwirft er Kampagnen für eine bessere Welt. Seine Ideen reichen vom «Aufklärungsspot im Jungle-Camp» über einen Podcast, bei dem Helene Fischer und Billie Eilish über die zwei Milliarden Menschen sprechen, «die an den ausgefransten Rändern von irgendwelchen Ballungszentren leben, wo sie abgekoppelt sind und sich haltlos fühlen».
Im Grunde redet Tim Engels wie seine Tochter. «Ich will, dass die Leute da draussen gestresst sind von ihrer Ignoranz», sagt er zu seinem Team in der hippen Agentur. Aber während Frieda mit ihren klimaaktivistischen Freunden den Verkehr auf der Autobahn zum Stillstand bringt, ist der Vater ein rein phrasendreschender Moralist.
Man muss ihn sich vorstellen wie Lars Eidinger, der diesen Vater spielt. Eidinger ist Eidinger. Der Darsteller mag es, sich Blösse zu geben. Die Kamera klebt an der kahlen Stelle am Hinterkopf, im Meeting legt er die nackten Füsse auf den Tisch; kommt er abends zur Tür rein, wirft er als Erstes sämtliche Klamotten ab, als wäre er in den FKK-Ferien.
Ungeniert spaziert er im Adamskostüm durch die Wohnung, die bilderbuchmässig nach Westberlin-Existenz aussieht. Dass auf dem Tischchen im Eingangsbereich der «Spiegel» liegt, beweist den aufmerksamen Szenenbildner.
Milena Engels, die als Entwicklungshelferin nonstop nach Nairobi jettet, um dort ein Theater zu bauen, passt auch mustergültig in das Milieu der selbstgefälligen Weltverbesserer. Während ihr Mann sich offensichtlich unwohl fühlt in seiner Kleidung, kratzt sich Milena Engels unablässig. Die Haut, sagt man, sei ein Spiegel der Seele. Tim und Milena Engels gehören zum Seelenarzt.
In der Paartherapie sind sie längst. Aber das führt nicht weiter. «Ich will nicht immer Erwartungen erfüllen», nervt sich die Frau; «küss mich doch mal zur Begrüssung», beklagt sich der Mann. Das Lamentieren ist so nervig, dass die Therapeutin bald auch nicht mehr mag: «Sind Sie zu mir gekommen, um zusammenzubleiben oder um sich zu trennen?»
Die zwei sind ein hoffnungsloser Fall. Oder doch nicht? Plötzlich steht nämlich Farrah (Tala Al-Deen) vor der Tür, eine Ärztin, die aus Syrien geflohen ist. Völlig überqualifiziert, nimmt sie die freie Stelle als Haushaltshilfe bei Familie Engels an. Allerdings regelt sie dann nicht nur deren gewöhnlichen Haushalt, sondern auch den seelischen. Denn Farrah versteht sich auf so etwas.
Mehr Syrien wagen?
«Das Licht» im Filmtitel ist eine magische LED-Lampe, vor der Farrah nachts in ihrer Plattenbauwohnung sitzt. Wenn sie nur lange genug in das Stroboskop schaut, sieht sie sich in eine höhere geistige Sphäre versetzt. Farrah ist buchstäblich eine Seelsorgerin, die über die Lampe mit ihrer versehrten syrischen Heimat verbunden ist. Aber um ihren Liebsten dort zu helfen, muss das Medium auch in Deutschland wirken. Weil die Seelen miteinander vernetzt sind. Irgendwie so.
Gleichzeitig ist es aber auch ganz einfach, es könnte simpler nicht sein: Tom Tykwer erzählt von einer syrischen Geflüchteten, die den dysfunktionalen deutschen Charakter therapiert. Anders gesagt: Mehr Syrien macht Deutschland menschlicher.
Tykwer hat ein Märchen gedreht, ein Migrationsmärchen. Merkels «Wir schaffen das» kommt hier im Mäntelchen des magischen Realismus daher. Ja, Tykwer zieht die Schraube sogar weiter an: «Wir schaffen das» wird zu «Wir brauchen das». Deutschland ist kaputt, kratzt sich wie blöd und sieht nackig nicht gut aus, so ungefähr lautet die Diagnose. Da hilft nur eins: ein reines syrisches Herz.
Eine schöne, orientalische Farrah, die tapfer zuhört, wenn der deutsche Stoffel sein Leid klagt: Stellt sich Tom Tykwer so eine produktive Auseinandersetzung mit der Asylproblematik vor? Für die meisten Menschen im Land ist die Migration laut Umfragen das drängendste Problem. Eine Politik, die sich ihren Sorgen verschliesst, hat die AfD gross und grösser gemacht. «Das Licht» ist sozusagen die Fortsetzung dieser Politik mit andern Mitteln.
Und es ist die Fortsetzung der letztjährigen Festivalausgabe, als die Berlinale ihre eigene Brandmauer hochgezogen und der AfD die Tür gewiesen hatte. Auch dieses Jahr muss die Rechtspartei laut Medienberichten draussen bleiben, angeblich wegen Platznot gab es für sie keine Karten für die Eröffnung.
Die Filmfestspiele verstehen sich als sozusagen rechtsfreie Zone. Damit verhalten sie sich so, wie es in der Kulturbranche comme il faut ist. Gerade haben sich wieder einige von Deutschlands bekanntesten Schauspielern in einem offenen Brief geäussert, gegen Friedrich Merz und sein Anbandeln mit der AfD im Bundestag. Unter ihnen Daniel Brühl, Jella Haase, Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel.
So gesehen, ist «Das Licht» wie angeknipst für die Berlinale. Es ist der perfekte Film für die selbsterklärten Anständigen, die auf die Strasse gehen und gegen rechts protestieren. Tykwer macht ihnen ein bequemes Angebot: Zur Abwechslung können wir uns auch im Kino versammeln, da ist es wärmer.
Vielleicht ist das polemisch. Fantasy darf natürlich alles. Aber gute Fantasy erlaubt dem Zuschauer eine kurzweilige Realitätsflucht. Realitätsverweigerung, wie sie sich in Tykwers Haltung ausdrückt, ist etwas anderes. Statt in der Zerstreuung endet sie in der Zumutung.
Die Moralpredigt dauert 160 Minuten
Ausgehend von der Lifestyle-linken deutschen Familie Engels hätte Tom Tykwer eine bissige Gesellschaftssatire entwickeln können. Es wäre ein selbstironischer Blick auf die eigene Bubble gewesen. Doch indem Tykwer Farrah zur Rettung ruft, fabriziert er hohle Luft. Statt zu einem Schwank über Doppelmoral wird der Film zur Moralpredigt. Und kürzer als 160 Minuten (!) fasst sich der Filmemacher nicht.
In seinem Grosserfolg «Babylon Berlin» konnte er sich ausbreiten. Bei der Rückkehr zum Kinoformat lässt Tykwer jede erzählerische Effizienz vermissen. Szenen ziehen sich in die Länge, wahllos werden Nebenschauplätze aufgemacht: etwa eine seltsam schwarzhumorige Einleitung mit dem Tod von Farrahs Vorgängerin im Engels-Haushalt, dann ein brüsk eingeschobener Schwangerschaftsabbruch der Tochter, die alte Liebschaft der Mutter in Nairobi . . . Tykwer verzettelt sich heillos.
Irgendwann wirft er unmotiviert noch eine Musicalnummer rein, später schneidet er unvermittelt eine Comic-Sequenz dazwischen. Vielleicht fing er sich selber zu langweilen an. Vielleicht wollte er auch noch einmal jung sein und erinnerte sich an die Energie von «Lola rennt» (1998), jenen Film, der ihn als Deutschlands originellsten Filmemacher seit langem auswies. Die Energie ist weg. Das Licht flackert anstrengend.