In Sizilien findet man heraus, dass die Welt des ofengebackenen Snacks riesig ist. Wenn der Pizzaiolo verschiedene Getreide- und Backarten miteinander kombiniert, kann der Kunde den Ofenklassiker noch einmal ganz neu entdecken.
Kalorienreich und ungesund sei sie, die Pizza, erklären einem Ernährungspuristen. Ein immer ähnlich schmeckendes Fast Food für kulinarische Legastheniker, sagen andere. Aber derartige Urteile trafen nicht zu auf jenes Exemplar, das mir vor ein paar Tagen im Ristorante De Natale in Fiumefreddo di Sicilia serviert wurde. Das Lokal am Fusse des Ätna, im tiefen Süden Italiens, hat sich spezialisiert auf Pizza, und sein Chef denkt deutlich weiter, als es viele auf italienische Küche fokussierende Gastronomen in der Schweiz oder in Deutschland zu tun pflegen.
Nicht weniger als vier Pizzen wurden mir im «De Natale» zu einem Menu zusammengestellt, als Probierviertel serviert. Die Unterschiede zwischen ihnen waren riesig – aber kein einziges Mal an diesem Tag wurde das Wort «Napoletana» ausgesprochen. Warum sollte man auch auf Sizilien Pizza nach neapolitanischer Art backen? Der Begriff wäre zudem wenig hilfreich gewesen angesichts der Akribie, mit der im «De Natale» alle Zutaten zusammengestellt, alle Details der Zubereitung durchdacht waren. Es geht hier um Backtemperaturen, die Auswahl der richtigen Mehle und den zu ihnen passenden Wassergehalt der Teige.
Zweimal backen, um äusserste Balance zu erreichen
Spätestens beim ersten Bissen der zunächst servierten Pizza wurde klar, was vielen in Schweizer Restaurants aufgetragenen Teigfladen fehlt. Man interessiert sich hier leider allzu oft für ein schönes Äusseres, also einen wulstigen Rand mit schwarzen Blasen und einem weichen Inneren. Das Ergebnis des sehr kurzen, sehr heissen Backprozesses ist: oft soft am Rand, in der Mitte aber glitschig und nicht richtig durchgebacken. Was nicht bedeutet, dass die neapolitanische Pizza der wirklichen Könner schlecht wäre!
Doch um alles richtig einschätzen zu können, sollte man einmal im «De Natale» essen. Etwa eine Pizza, die doppelt gebacken wurde – erst im Elektroofen, um eine Basis zu erreichen, dann im Holzofen. Das Ergebnis ist ein zwar fester, aber sehr lockerer Boden, auch in der Mitte der Pizza nicht durchgeweicht, aussen mit einem unglaublich feinen Crunch, und dank dem hochwertigen Mehl und dem hohen Wassergehalt der Pizza (70 Prozent) locker und leicht. Allerdings auch mit viel Aufwand verbunden, weshalb diese Sorte am Freitag und Samstag, wenn es hier im Lokal viel zu tun gibt, nicht zu haben ist.
Regionales Getreide und Zerealien, aber keine Spielereien beim Belag
Eine andere verkostete Pizza besass weniger Crunch, war aber so perfekt gebacken, wie es viele einschlägige Bäcker nur zufällig hinbekommen. Das überzeugende Ergebnis der Garung war wohl auch auf die Verwendung von Mehlen aus alten sizilianischen Getreidesorten zurückzuführen. Bei einer dritten Sorte waren Getreidekörner sowohl im Teig als auch als Topping verarbeitet worden – der Crunch war zu spüren, wirkte hier aber ganz anders als bei der Nummer eins. In der vierten Pizza schliesslich wurde neben Gersten- auch Reismehl verarbeitet – was wiederum zu ganz eigenständiger Haptik führte.
Und der Belag – aus dem ja viele Kunden und Pizzaanbieter einen Kult machen? Der verschwand hier beinah aus dem Blickfeld – und das war gut so. Ein paar intensiv schmeckende, ofengetrocknete Tomaten hier, Kartoffelcrème dort, ein bisschen Fior di Latte und Schinken . . . Mehr brauchte es nicht, denn der gebackene Teig sollte die Hauptsache sein, und er war es auch.
Gut gemachte Pizza – fast ein Diät-Essen
Nach dem Verzehr des insgesamt sechsten Viertels – von zweien der vier salzig-würzigen Pizzen nahm ich doppelt so viel – fühlte ich mich so leicht und beschwingt wie selten nach dem Verzehr von Teigfladen. Und hatte sogar noch Appetit auf das Dessert, das natürlich ebenfalls eine Pizza war: wiederum unfassbar locker und mit leichter, aber merklicher Knusprigkeit, mit Crème und Erdbeercoulis belegt, nicht zu süss und nicht zu vergleichen mit der in Zürich bisweilen angebotenen und meist pappig-zuckrigen Nutella-Pizza . . .