Blaise Goetschin ist als Chef der Genfer Kantonalbank nach über 20 Jahren zurückgetreten. Im Interview blickt er auf das Ende der CS und kritisiert die fehlende Wirtschaftsbildung in der Schweiz. Diese sei der Grund für die Entfremdung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft.
Herr Goetschin, Sie haben Ihre Karriere bei der Credit Suisse aufgebaut und das Corporate-Finance-Geschäft erfolgreich entwickelt. Was verliert die Schweiz mit dieser Bank?
Die Schweizer Wirtschaft hat noch nicht realisiert, was sie verloren hat. Das ist meine persönliche Meinung. Die zwei Grossbanken waren komplementär, dank ihrer Konkurrenz entstanden bessere, kreativere Lösungen. Der Wegfall der CS hat auch auf das Preisgefüge einen Einfluss. Die Unternehmen haben gegenüber den Banken an Verhandlungsmacht verloren. In der Export- oder der Infrastrukturfinanzierung war die CS führend – sie war williger, solche Geschäfte anzubieten, und sogar kompetenter als die Konkurrenz. Zudem hat der Ruf der Schweiz international gelitten.
Wo sehen Sie das?
Mehrere Kunden in Asien und im Nahen Osten sagen uns, sie hätten nie erwartet, dass eine Institution wie die Credit Suisse, welche die Schweiz im Namen trug, so schnell untergehen könnte. Dieser Schock wird mit der Zeit vergehen, aber die genannten Herausforderungen punkto Wettbewerb bleiben.
Die Genfer Kantonalbank ist nach der Übernahme der CS durch die UBS in vielen Geschäftsbereichen in Genf von der dritten zur zweiten Option aufgerückt. Was verändert sich damit?
Es wird uns etwas helfen, aber es sind keine Wunder zu erwarten. Die UBS wird die Lücke, die mit dem Verschwinden der CS entsteht, teilweise ausfüllen. Auch Raiffeisen und die ausländischen Banken sind an manchen Geschäften interessiert, Letztere etwa an der Finanzierung des globalen Rohstoffhandels.
Sie haben die Führung der Genfer Kantonalbank damals inmitten ihrer grössten Krise übernommen. In welchem Zustand haben Sie die Bank angetroffen?
Die Bank war 1999 einfach bankrott. Der Kanton hatte alle schlechten Hypothekarkredite einer Auffangstiftung übertragen. Ich startete am 1. Oktober 2000, als die Bank technisch und politisch stabilisiert war, und sollte den Bankbetrieb zu neuem Leben erwecken und dann normalisieren.
Was heisst normalisieren?
Wir starteten mit einem negativen Wert von fünf Milliarden Franken. Inzwischen haben wir wieder zwei Milliarden an Eigenkapital aufgebaut und den wirtschaftlichen Schaden, den der Kanton erlitt, mehrfach kompensiert. Das hat 24 Jahre gedauert.
Was war der Schlüssel, um die Bank zu stabilisieren?
In der ersten Phase ging es um die Bereinigung. Der Kanton hatte nur einen grossen Teil der faulen Kredite übernommen, wir fanden weitere 660 Millionen Franken bei uns. Einen Teil transferierten wir später in die Auffanggesellschaft, den anderen Teil haben wir abgeschrieben. Parallel dazu musste ich, in einer zweiten Phase, Bilanz und Infrastruktur der Bank verkleinern. Wir schrieben drei Jahre Verluste und betrieben Kriegschirurgie.
Wo fanden Sie 2000 noch Geldgeber?
Zum Glück waren die anderen Banken nicht so nervös wie heute. Die Krise betraf nur die Genfer Kantonalbank und war nicht systemisch. Die anderen Banken hatten daher keine Angst vor uns. Allen voran die deutschen Landesbanken und einige grosse französische Banken haben uns Kredite gewährt. Die Absicherung der Liquidität war Phase drei. In der vierten Phase regenerierten wir auch die Eigenmittel. Bis 2012 haben wir deshalb nur einen sehr kleinen Teil der Gewinne ausbezahlt.
Auch Angestellte arbeiten nicht gern bei einem Unternehmen, das auf Jahre hinaus schrumpft und spart. Wie nahmen Sie die Belegschaft mit?
Die menschliche Dimension ist anspruchsvoll. Zunächst musste ich die Geschäftsleitung neu aufbauen – die vorherige war weg. Wenn Sie von aussen zu einer Bank in der Krise kommen, wissen Sie noch nicht, wer die guten Mitarbeiter sind. Der CEO muss viel kommunizieren. Wir haben von Anfang an eine langfristige Vision formuliert. Wir wollten zu den besten Kantonalbanken der Schweiz gehören. Hinzu kam eine Werbekampagne – mit dem umgedrehten K der Kantonalbank, denn es ging uns um einen Richtungswechsel. Damit erreichten wir auch die Leute in der Bank.
Sie halten grosse Stücke auf die militärische Ausbildung. Hat das geholfen?
Als Offizier habe ich vom Militär gelernt, resilienter zu sein. Charisma und Kommunikation sind wichtig. Ich habe unsere Führungskräfte an die militärische Kaderschule in Luzern geschickt, so dass wir einen einheitlichen Führungsstil entwickelten. Inzwischen haben mehr als hundert Kollegen die mehrwöchige Schulung durchlaufen. Viele hatten keinen Militärdienst absolviert, die Franzosen, die Frauen, aber auch viele Schweizer Männer. Das hat mir geholfen, das mittlere Kader zu strukturieren und zu einen.
Vor Ihrer Zeit bei der BCGE führten Sie die Finanzverwaltung des Kantons Waadt, der damals ebenfalls in einer Budgetkrise steckte. Fehlen Ihnen diese Krisen mittlerweile?
Ich habe mich nie als Krisenmanager gesehen, aber ich bin einer geworden durch die Umstände. Zwischen meiner Tätigkeit beim Kanton Waadt und jener bei der BCGE führte ich die Schweizer Niederlassung eines US-Finanzinstituts, bei dem kurz davor ein ganzes Team abgesprungen war. Meine letzten drei Jobs begannen immer in einer Krisensituation. Ich habe Krisen überhaupt nicht gern, habe aber einige Charakterzüge, die mir beim Umgang damit helfen. Ich habe viel Lebensvertrauen. Ich werde nervös wie alle anderen, strahle aber dennoch etwas von diesem Vertrauen aus. Das stabilisierte die Bank und ihre Mitarbeiter, was sich wiederum stark auf das Vertrauen der Kunden auswirkt.
Die Genfer Kantonalbank ist eine der wenigen Kantonalbanken ohne eine Staatsgarantie. Führten Sie die Bank deswegen anders als Ihre Kollegen in Zürich oder Luzern?
Erstens verändert es nichts an der Art, wie wir Entscheide treffen. Zweitens macht auch der Markt keinen Unterschied, etwa wenn wir AT1-Anleihen oder Obligationen begeben. Wir müssen unseren Kunden auch keine höheren Depotzinsen zahlen als andere Kantonalbanken. Ich finde es aber ohnehin falsch, von einer «Staatsgarantie» zu sprechen. Das ist eine Aktionärsgarantie. Jeder Aktionär hat das Recht, seiner Firma seine persönliche Garantie zu geben. Das kann auch ein KMU-Besitzer sein, nicht bloss ein Kanton. All diese Garantien basieren auf kantonalen Gesetzen und sind demokratisch legitimiert.
Dennoch haben Sie die Garantie selbst an den Kanton zurückgegeben. Weshalb?
Wir brauchen die Garantie nicht. Wir sind kotiert und wollten keine Paralleldividende einführen. Das Problem der Garantie ist die Preisfindung. Nach welcher Logik bemisst man ihren Wert? Es ist sehr kompliziert. Also verzichten wir besser darauf und zahlen dafür Steuern und Dividenden. Die Garantie wieder einzuführen, ist jedenfalls kein Thema hier in Genf.
Gab Ihnen der Verzicht mehr Freiheit? Es verändert das Verhältnis zum Kanton Genf, auch wenn er ein Aktionär ist.
Wir zählen fünf Repräsentanten des Kantons im Verwaltungsrat, aber nach der Krise haben alle Kantonsvertreter, inklusive der Verwaltungsratspräsidenten, klar gesagt: Die Bank ist autonom und nicht politisch geführt. Natürlich ist niemand völlig autonom. Wenn wir Probleme schaffen, die der Reputation schaden, hat das Rückwirkungen auf die Politik. Aber die Beziehung zum Kanton ist streng geregelt und hat sich entspannt.
Sie haben vor einigen Jahren gesagt, dass sich in Zukunft fünf bis sechs Kantonalbanken den Schweizer Markt aufteilen würden. Würden Sie diese Aussage nochmals so treffen?
Das war ein bisschen provokativ, aber eine Konsolidierung bleibt eine ernstzunehmende Variante.
Warum?
Weil die Technologiekosten sehr hoch sind und die Regulierung immer komplexer wird. Daher glaube ich, dass einige Kantonalbanken vielleicht fusionieren sollten.
Bei diesen zwei Kostentreibern ist kein Gegentrend in Sicht. Werden kleine Banken an den Anschlag geraten?
Ich zögere, weil die Realität der letzten Jahre das Gegenteil gezeigt hat. Die kleine Caisse d’Epargne d’Aubonne wurde als beste Bank in der Schweiz ausgezeichnet. Die Grossen machen grosse Fehler, die Kleinen nur kleine. Aber es fällt kleinen Banken schwer, Herausforderungen wie den Umgang mit künstlicher Intelligenz oder die Konkurrenz durch Fintech-Unternehmen zu bewältigen. In jedem Fall ist eine starke operative Kooperation zwischen Kantonalbanken lebenswichtig.
Braucht die Schweiz die Kantonalbanken denn überhaupt noch? Im 19. Jahrhundert gründete man sie, weil es nicht genug Kredite für kleine Unternehmen gab. Heute sind sie vor allem Hypothekarbanken.
Es braucht sie, doch sie müssen auf die Bedürfnisse ihrer kantonalen Wirtschaft eingehen. Wir brauchen heute 24 Alfred Eschers, also 24 Unternehmerbanken. Seit der CS-Krise erst recht. Diese Kernaufgabe ist in den Kantonalbankgesetzen festgehalten. In Genf bewegen wir uns mit einem Anteil von nur 50 Prozent Hypothekargeschäft in unserem gesetzlichen Auftrag, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.
Kürzlich hat die Schweiz einer 13. AHV zugestimmt. Viele sagten sich: Wenn Geld für die Banken da ist, dann auch für mich. Hat die CS-Rettung die Schweiz verändert?
Ich teile diese Interpretation nicht. Die grossen Bankenrettungen haben die Schweiz letztlich nichts gekostet. Weder die UBS-Rettung von 2008 noch die Übernahme der CS im vergangenen Jahr. Bei der Genfer Kantonalbank hat es nach 1999 zwar lange gedauert, aber auch wir haben das Eigenkapital wiederhergestellt. Die Schweizer Banken ziehen Kundengelder aus dem In- und Ausland an, was die Verfügbarkeit von Kapital in der Schweiz erhöht und damit die Kreditkosten verringert. Ohne das Offshore-Geschäft der Schweizer Banken wären daher auch die Hypotheken teurer. Dieser Effekt wird nicht gut verstanden – und von den Banken auch nicht sehr gut kommuniziert.
Wenn es nicht an den Banken liegt, warum haben sich Wirtschaft und Politik auseinanderbewegt?
Ich denke, dass das Verständnis der Wirtschaft abgenommen hat.
Warum?
Einerseits ist die Wirtschaft komplizierter geworden. Wenn Sie eine Umfrage zu den abgeschriebenen AT1-Anleihen der CS machen – wer kann Ihnen schon sagen, was das genau für Instrumente sind? Oder warum die Schweizerische Nationalbank damals Negativzinsen eingeführt hat? Andererseits wurde der Wirtschaftsunterricht an den Schulen reduziert, und die Medien berichten weniger über die Konzepte wie die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Früher war zudem ein Grossteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe tätig. Sie war dank ihrem Alltag mit der Erfolgsrechnung vertraut: Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass die Einnahmen die Ausgaben übersteigen müssen. Heute verstehen viele diese grundlegenden Konzepte nicht mehr; es fällt ihnen schwer, den eigenen Pensionskassenausweis zu lesen. Dadurch wird eine unfreiwillige Elite von Personen geschaffen, welche die Zusammenhänge versteht, während die Bevölkerung nicht mehr in der Lage ist, die Wirtschaft eigenständig zu beurteilen.
Wie liesse sich ein neues Gleichgewicht etablieren?
Das liegt in der Verantwortung der Politik, der Schulen und Universitäten. Die Wirtschaft kann der Bevölkerung diese Zusammenhänge nicht selbst erklären, denn sie würde eine verzerrte Botschaft aussenden. Die Verbände und Lobbys versuchen, die Zusammenhänge zu erklären, aber sie sind nicht sehr gut darin.
Sie haben sich lange bei Economiesuisse und der Bankiervereinigung engagiert. Welche Rolle können die Verbände hierbei einnehmen?
Damit werde ich mir nun keine Freunde machen. Aber es ist nicht die vorrangige Aufgabe der Wirtschaftsverbände, solche Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie müssen die Interessen ihrer Mitglieder verteidigen. Als Verband sind wir eine Lobby. Wir sollten aufhören, so zu tun, als seien wir keine. Es liegt an den Schulen, diese Aufklärungsarbeit zu leisten, im Geschichtsunterricht etwa. Vielen Konflikten liegen wirtschaftliche Fragestellungen zugrunde. Wer den Nahen Osten verstehen will, muss die Ölwirtschaft verstehen.
Im Zuge des CS-Niedergangs wurde aber auch bemängelt, dass Führungskräfte keine Verantwortung mehr für das Tun ihrer Firmen übernähmen.
Hier folge ich der klassischen Linie. Es gibt einen Rechtsstaat. Wer gegen dessen Regeln verstösst, wird bestraft.
Aber was geschieht in Fällen, die diese Hürde nicht überschreiten?
Keinen Geschäftserfolg zu haben, Fehlinvestitionen zu tätigen und bankrottzugehen, ist kein Verbrechen. Wenn Misserfolg strafbar wird, wird niemand mehr etwas riskieren. Bereits heute zögern viele, in einer Bank Verantwortung zu übernehmen, weil sie wegen Fehlern bestraft werden könnten – auch Anwälte und Compliance-Fachleute. In dieser Frage habe ich eine sehr klare Haltung. Die Finanzmarktaufsicht soll keine Personen bestrafen, die bloss einen Fehler und keine Verbrechen begangen haben.
Das Vorgehen gegen Compliance-Spezialisten führt dazu, dass diese zu risikoavers werden.
Das Problem ist nicht bloss, dass es immer mehr und kompliziertere Regeln gibt – sie sind oft unklar formuliert. Der Interpretationsspielraum führt dazu, dass man viel Zeit und Energie mit Fragen verbringt, die der Gesellschaft nichts bringen. Darüber hinaus produziert diese Überregulierung sehr viel CO2.
Haben Sie Beispiele?
Erstens die Nachhaltigkeitsberichte. Muss die Generalversammlung bindend darüber abstimmen, oder ist es nur eine Konsultativabstimmung? Es gibt keine klare Leitlinie. Roche und Novartis gehen von einer Konsultativabstimmung aus, Nestlé und Swisscom sehen es anders. Jedes Unternehmen musste diese Frage selbst abklären. Auch wir haben einen Rechtsprofessor beigezogen und zig Stunden an Vorbereitungsarbeit investiert. Zweitens der revidierte Geschäftsbericht: Muss man ihn sofort publizieren, oder hat man einige Wochen Zeit dafür? Die Regeln sind unscharf. Die Börsenbetreiberin SIX büsste einige Firmen, weil sie den Geschäftsbericht zu spät publiziert hatten. Wir sprechen von Tausenden Franken Busse pro Tag, zudem eröffnet die SIX eine Untersuchung gegen das Unternehmen und verschickt dazu eine Medienmitteilung in drei Sprachen, was zu einer negativen Publizität führt. Beide Beispiele sind kleine Probleme – doch diese kumulieren sich.
Sie haben Anfang März die Führung der BCGE Ihrem Nachfolger Nicolas Krügel übergeben. Wie geht es für Sie weiter? Sie haben ja zeitlebens wenn nicht die Krisen, dann doch die Herausforderungen gesucht . . .
Es war eher umgekehrt, die Herausforderungen haben mich gesucht.
Gibt es neue Herausforderungen, die Sie aufsuchen werden?
Ich befinde mich in Gesprächen. Ich werde sicher nicht nur fischen gehen, sondern im Umfeld der Schweizer Wirtschaft aktiv bleiben. Picasso hat doch auch nach 65 noch gemalt.
Langjähriger Kantonalbankchef
Blaise Goetschin stand fast ein Vierteljahrhundert an der Spitze der Genfer Kantonalbank (BCGE). Der heute 66-Jährige startete seine Karriere im Jahr 1982 als Wirtschaftsprüfer bei PricewaterhouseCoopers. Von 1985 bis 1995 war er für die Credit Suisse in Zürich, New York und Genf tätig. Danach arbeitete er während dreier Jahre als Leiter der Finanzverwaltung des Kantons Waadt, bevor er zur Schweizer Tochter des amerikanischen Vermögensverwalters Fiduciary Trust wechselte. Im Jahr 2000 wurde Goetschin Chef der BCGE und blieb bis im Frühling 2024 auf diesem Posten. Seine Nachfolge übernahm Nicolas Krügel, der von der Credit Suisse zur Kantonalbank stiess. Seit diesem April ist Goetschin Mitglied des Verwaltungsrates der Arab Bank in Genf und Vizepräsident des Verwaltungsrates der Privatbank Gonet & Cie. (lho.)