Die Brigade kämpft in Deutschland gegen die Diktatur in der Heimat – und distanziert sich von Gewalt. Doch in Äthiopien will sie sich bewaffnen.
Tsehainesh Kiros ist aufgebracht, ihre Stimme schwankt stark. «Es waren 15 oder 20 Polizisten in Vollmontur», erzählt sie am Telefon. An einem Mittwochmorgen Ende März, um 6 Uhr, haben die Polizisten die Eingangstüre eingetreten, Kiros weggeschubst, so dass sie zu Boden fiel, und ihre Wohnung in Giessen, Hessen, gestürmt. «Es war sehr, sehr schlimm», sagt sie.
Während die Polizisten ihre Wohnung durchsuchten, musste sie im Wohnzimmer stillsitzen. Ihr Mitbewohner wurde ohnmächtig vor Schreck. Sie bekam den Durchsuchungsbefehl in die Hand gedrückt und las: Sie werde verdächtigt, Mitgründerin einer «inländischen terroristischen Vereinigung» zu sein. «Ich stand unter Schock», sagt Kiros.
Sie ist eine von 17 Personen aus Eritrea, die von der deutschen Bundesanwaltschaft des Terrors verdächtigt werden. Über 200 Polizisten führten Razzien in sechs Bundesländern durch. Die Zielpersonen sollen «leitende Funktionen» bei der Brigade N’Hamedu übernommen haben, teilte der Generalbundesanwalt mit.
Propaganda-Festivals
Kiros ist 66 Jahre alt. Sie ist vor vierzig Jahren mit zwei kleinen Kindern aus Eritrea geflohen und schon seit dreissig Jahren deutsche Staatsbürgerin. In Deutschland hat sie jahrelang als Pflegerin für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Was ist geschehen, dass eine Frau, die bestens in die deutsche Gesellschaft integriert ist und ihr Leben lang hier gearbeitet hat, im Verdacht steht, eine Terroristin zu sein? Und wer steckt hinter der ominösen Brigade?
Hintergrund der Razzia waren die gewaltsamen Ausschreitungen bei sogenannten Eritrea-Festivals, die in den vergangenen Jahren für Schlagzeilen sorgten. Die Veranstaltungen in Giessen wurden vom Zentralrat der Eritreer in Deutschland organisiert, der der eritreischen Diktatur nahesteht. Vordergründig wird bei den Veranstaltungen die eritreische Kultur gefeiert, mit Reden, Musik und Tanz. Doch die Organisatoren verbreiten Propaganda für die eritreische Diktatur und treiben Gelder fürs Regime ein. Und laden sogar eritreische Regierungsvertreter ein.
Darum protestieren eritreische Gegner der Diktatur gegen die Festivals. Der Konflikt zwischen Regimegegnern und -anhängern eskaliert immer wieder. Und in den vergangenen Jahren veränderte sich die eritreische Opposition in Deutschland. Sie wurde jünger und stärker – und teilweise gewaltbereit.
Der Diktator, der die Diaspora spaltet
In Deutschland leben mehr als 90 000 Menschen mit eritreischen Wurzeln. Viele sind wie Tsehainesh Kiros vor über dreissig Jahren vor dem Unabhängigkeitskrieg nach Deutschland geflohen. Viele jüngere sind hingegen erst seit kurzem hier.
Das Regime des kleinen Staates Eritrea, 3,7 Millionen Einwohner, ist eine lupenreine Diktatur und wird als das Nordkorea Afrikas bezeichnet. Das Regime des Diktators Isaias Afewerki unterdrückt, überwacht, versklavt und foltert die Menschen. In einem obligatorischen nationalen Dienst müssen die Eritreer Militärdienst oder Zwangsarbeit leisten, unlimitiert lange. Dabei kämen die Umstände laut Uno-Berichten Sklaverei gleich.
Hunderttausende sind deshalb geflohen. Doch auch im Exil fühlen sich viele nicht sicher. Denn hier treffen sie auf jene Eritreer, die während des dreissigjährigen Unabhängigkeitskriegs von 1961–1991 geflohen sind. Sie sind mehrheitlich Anhänger Afewerkis. Für sie ist er der Held, der den Krieg gegen Äthiopien gewonnen hat.
Die vor Afewerkis Regime Geflüchteten berichten von Übergriffen und Erpressung im Exil, ihre Angehörigen in Eritrea werden eingeschüchtert. Konsularische Dienste erhalten sie oftmals nur gegen eine Steuer für das Regime.
Flucht mit zwei kleinen Kindern
Kiros ist schon vor Afewerkis Machtübernahme geflüchtet und ist, anders als die meisten anderen ihrer Generation in Deutschland, gegen den Diktator. Sie hatte sich im Alter von 17 Jahren der Eritrean Liberation Front (ELF) angeschlossen, die später Afewerkis Partei unterlag, und kämpfte während vier Jahren für die Unabhängigkeit Eritreas, bis 1979.
Dann floh Kiros nach Saudiarabien. Dort heiratete sie, bekam zwei Kinder und zog mit ihnen 1984 nach Deutschland. Hier angekommen, setzte sie sich in der Diaspora an Veranstaltungen und Kundgebungen weiterhin für die Freiheit Eritreas ein und gegen Isaias Afewerki.
Magnus Treiber, Professor für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, befasst sich seit Jahrzehnten mit Eritrea. Schon bevor jene ankamen, die vor Afewerkis Diktatur geflohen sind, habe es in Deutschland eine Opposition gegeben: «Regimekritische Gruppen in Deutschland entstammen traditionell der damaligen eritreischen Oppositionspartei ELF», sagt Treiber. Die alte Trennungslinie zwischen ELF und Regierungspartei wirke bis heute fort.
Die ELF, das ist die Partei, für die Tsehainesh Kiros als 17-Jährige kämpfte. Die Partei bestand in loser Form auch in Deutschland weiter, aus ihr entsprangen viele neue Organisationen, die Opposition zersplitterte. Eine der neusten oppositionellen Gruppierungen ist die Brigade N’Hamedu, die jetzt des Terrors verdächtigt wird. Auf Deutsch bedeutet der Name «Brigade für die Muttererde». Sie ist auch als «Blue Revolution» bekannt wegen der hellblauen Shirts, die ihre Anhänger tragen.
31 verletzte Polizisten
Die Gruppierung fiel 2022 erstmals auf. Als das Eritrea-Festival in Giessen bevorstand, riefen viele junge Geflüchtete in den sozialen Netzwerken unter dem Namen Brigade N’Hamedu zum Protest gegen die Veranstaltung auf. Einige riefen zu Gewalt auf, auch gegen die Polizei.
Wenig verwunderlich, kam es zu Ausschreitungen. Aus ganz Europa reisten Oppositionelle an und störten die Veranstaltung. Auch mit Gewalt: 31 Polizisten wurden verletzt. Einzelne Demonstranten gingen mit Holzlatten, Glasflaschen und Fäusten auf die Polizei los. Hunderte wurden festgenommen, es gab viele Strafverfahren, einige laufen noch.
«Gewisse Aktivisten haben viel Scheisse gebaut», sagt Kiros. Sie distanziert sich von jeglichem gewaltvollen Protest. Doch jetzt wirft die Bundesanwaltschaft ihr und 16 anderen vor, gewaltsame Ausschreitungen «orchestriert» zu haben.
Es geht konkret um Proteste gegen zwei Eritrea-Festivals in Giessen, 2022 und 2023, und gegen ein politisches Seminar eines eritreischen Vereins in Stuttgart. Der Generalbundesanwalt scheint alarmiert zu sein: «Einige Mitglieder» der Brigade N’Hamedu sollen Gewalt gegen «deutsche staatliche Institutionen und Repräsentanten der Staatsgewalt, etwa Polizeikräfte» als legitimes Mittel erachten.
Den Verdacht, die Brigade N’Hamedu könnte eine terroristische Vereinigung sein, findet jedoch nicht nur Kiros fragwürdig. Der Ethnologe Treiber sagt: «Den Terrorverdacht halte ich für überzogen. Die Brigade N’Hamedu war zunächst nicht mehr als eine Kampagne, die vor allem über die sozialen Netzwerke zum Protest aktivierte.» Und auch wenn Gewalt gegen regimetreue Eritreer und gegen Polizeikräfte provoziert worden sei, habe es bei den Protesten kaum eine Organisations- oder gar Befehlsstruktur gegeben.
Die Bewegung konsolidiert sich
Dem stimmt Kiros zu. Erst nach den Protesten in Giessen habe sich die Bewegung verfestigt. In Giessen träfen sich heute regelmässig rund 50 Mitglieder der Brigade N’Hamedu, sagt Kiros. Deutschlandweit würden sich über 1000 Menschen lokaler Ableger der Brigade N’Hamedu treffen. Laut Kiros werde Gewalt nicht toleriert. Es gehe darum, andere Strategien zu entwickeln, um die Diktatur in der Heimat und in der Diaspora zu schwächen. Das stehe klar im «Grundgesetz» der Brigade.
Damit meint Kiros ein Dokument, das von der Polizei bei den Durchsuchungen beschlagnahmt wurde und das der NZZ vorliegt. In der Präambel heisst es: «Das Hauptziel dieser Organisation ist es, das diktatorische Regime in unserem Land vollständig zu stürzen. Sie will sich dem Einfluss der Propaganda und Manipulation durch die PFDJ (die Regierungspartei, a. d. R.) in der Diaspora entgegenstellen. Dies geschieht im Rahmen aller gesetzlich zulässigen Massnahmen.»
Aus dieser Art Statut geht hervor, dass sich die Bewegung wie ein deutscher Verein mit lokaler, nationaler und internationaler Ebene organisiert. Im Dokument distanziert sich die Brigade N’Hamedu explizit von Aufrufen zu Gewalt, bei Verstössen droht der Ausschluss.
Terrorexperte warnt
Der Terrorexperte Hans-Jakob Schindler bleibt vorsichtig. «Es gab bei den Ausschreitungen eben nicht nur Gewalt gegen andere Eritreer, sondern auch gegen Polizisten», sagt er. Jetzt gelte es für die Bundesanwaltschaft, Beweise zu sichern und zu erkennen, ob Gewalt als Mittel der politischen Agitation eingesetzt werde. «Und leider war die Brigade N’Hamedu auch in anderen Ländern immer wieder gewalttätig, und sie machte keinen Unterschied zwischen Pro-Regime-Eritreern und der Polizei», sagt er. Von der Gruppe gehe offensichtlich Gefahr aus.
Ruth Bahta, Ärztin und Vorsitzende des Dachverbands der eritreischen Opposition United Eritrean Voices Germany e. V., ist sehr enttäuscht über die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft. «Eine Schockwelle ging durch die Opposition», sagt sie. Es gebe eine grosse Diskrepanz zwischen ihrer Wahrnehmung, dass Gewalt in der oppositionellen Bewegung abgenommen habe, und der Nachricht über die Ermittlungen. «Es ist wie eine Ohrfeige.» Sie habe fast alle Prozesse der jungen Männer verfolgt, die bei den Ausschreitungen gewalttätig geworden seien, und habe ein Umdenken festgestellt. Trotzdem seien die Ermittlungen wohl richtig, räumt sie ein. Doch sie würden ein schlechtes Licht auf die gesamte oppositionelle Gemeinschaft werfen.
Der bewaffnete Arm
Inzwischen scheint die Brigade N’Hamedu ihre Strukturen immer weiter zu verfestigen. Im Januar hat sich die globale Dachorganisation, die Global Brigade N’Hamedu, in Addis Abeba, der äthiopischen Hauptstadt, getroffen. Bei einer Konferenz mit 2000 Teilnehmern trafen sich Vertreter aus 17 Ländern der Diaspora. Das Treffen brachte eine brisante Entwicklung zutage: In Äthiopien soll ein bewaffneter Flügel der Brigade N’Hamedu aufgebaut werden.
Ein Bericht der BBC bestätigt dies. Laut «BBC Tigrinya», dem Ableger des britischen Senders auf Tigrinisch, hat Beyene Gebre-Egzabiher, der Chefdiplomat der Brigade N’Hamedu, in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba ein Büro für die Gruppierung eröffnet, «um die verstreuten Aktivitäten der Bewegung zu bündeln». Er sagte zur BBC, der Zweck des Büros sei die Durchführung eines bewaffneten Kampfes gegen das eritreische Regime. Laut Gebre-Egzabiher müsse die Bewegung nun Rekruten mobilisieren.
Kiros wartet Ermittlungen ab
Der Ethnologe Magnus Treiber weiss von der Entwicklung. Er wiegelt ab: «Die Bande zwischen gewaltsamen Protesten in Deutschland und bewaffnetem Kampf in Äthiopien dürfte sich auf wenige Einzelpersonen beschränken.» Es sei nicht von einem Sicherheitsrisiko für Deutschland auszugehen.
Auch Martin Plaut, Experte für das Horn von Afrika, kennt die Berichte. Er sagt: «Bisher gibt es nur den Willen, sich zu bewaffnen, und nur in Äthiopien.» Und er versteht die Ambition der Brigade in Äthiopien: «Wie sollte Afewerkis Regime sonst gestürzt werden?»
Tsehainesh Kiros gefällt die Idee allerdings nicht. Man müsse vor Ort vielmehr mit Dialog vorgehen, mit den eritreischen Militärs reden, die sich für eine Demokratie einsetzen könnten, Widerstand in der Bevölkerung organisieren. Jetzt wartet sie die Ermittlungen ab. Bei der Hausdurchsuchung habe die Polizei zwei Handys mitgenommen. Kiros musste mit auf den Posten, um sich fotografieren zu lassen und ihre Fingerabdrücke zu hinterlegen.