Bei den englischen Lokalwahlen haben Rechtsnationale und Liberaldemokraten den Tories das Wasser abgegraben. Ist die Partei von Winston Churchill noch zu retten?
Bei Schwanengesängen auf die britischen Konservativen ist Vorsicht geboten. 2005, zur Blütezeit von Tony Blair und seiner Labour-Regierung, beschrieb der Historiker Geoffrey Wheatcroft in einem Buch das «Aussterben der einst erfolgreichsten politischen Spezies Grossbritanniens». Dann setzten die Tories zu einem fulminanten Comeback an, das sie 2010 für vierzehn Jahre an die Schalthebel der Macht zurückführte.
Nach den Lokalwahlen in 23 Gemeinden von Anfang Mai stecken die Konservativen erneut in einer tiefen Krise. Diesmal wirken die Hürden für ein Comeback besonders hoch: Zum einen verloren die Tories 674 ihrer bisher knapp 1000 Gemeinderatssitze und erreichten landesweit nur noch einen Wähleranteil von 15 Prozent. Die über 70-Jährigen waren die einzige Wählergruppe, die noch mehrheitlich für die Konservativen stimmte.
Farage profitiert von Wahlrecht
Zum anderen ist das Zweiparteiensystem ins Rutschen geraten: Geschlagen wurden die Tories nicht wie bei der Unterhauswahl vom Sommer 2024 von Labour, sondern von Reform UK. Die Partei des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage gewann mit rund 30 Prozent der Stimmen mehr als 40 Prozent der Gemeinderatssitze.
Die Rechtsnationalen profitierten damit vom Mehrheitswahlrecht, das bisher stets die zwei Traditionsparteien bevorteilte und als Bollwerk gegen den Extremismus galt. In Labour-Kreisen heisst es, es sei nun völlig offen, ob bei der wohl 2029 stattfindenden Unterhauswahl noch immer die Konservativen der Hauptgegner sein würden – oder erstmals Farages Reformisten.
Reform punktet bei Brexit-Wählern
In Ländern wie Italien oder Frankreich haben rechtsnationale Kräfte den liberal-konservativen Traditionsparteien längst den Rang abgelaufen. Kann die Partei von Winston Churchill und Margaret Thatcher ein ähnliches Schicksal abwenden?
Ein genauerer Blick auf die Resultate der Lokalwahlen zeigt, wie schwierig die Ausgangslage ist. Anders als einst die ebenfalls von Farage geprägte United Kingdom Independence Party (Ukip) ist Reform UK mehr als eine Protestpartei. Die Reformisten haben viel Basisarbeit geleistet und stellten systematisch in allen Wahlkreisen Kandidaten auf. Nun kontrollieren sie 10 Gemeinderäte aus eigener Kraft, was Farage auch zu den besten Ukip-Zeiten nie gelungen war.
Laut einer Analyse des Wahlforschers John Curtice schnitt die Reform-Partei in jenen Wahlkreisen besonders gut ab, die 2016 klar für den Brexit gestimmt hatten. Zudem erhielten die Rechtsnationalen besonders viele Stimmen in ärmeren Gegenden, in denen viele weisse Briten ohne Hochschulabschluss wohnen. Am schlechtesten schnitt Reform UK im Zentrum der Universitätsstadt Oxford ab.
2019 war es der Konservativen Partei unter Boris Johnson noch gelungen, die Brexit-Wähler in abgehängten Regionen anzusprechen. Johnson versprach unter dem Schlagwort «Leveling Up», das Gefälle zwischen dem armen Norden und dem wohlhabenden Süden Englands zuzuschütten. Doch die Hoffnungen auf einen Aufschwung wurden enttäuscht. Zudem stieg die Zuwanderung dramatisch an, obwohl die Brexiteers einen Rückgang versprochen hatten. Dies schlachtet Farage aus, der die Netto-null-Migration fordert, aber eine gewisse Distanz zu ethno-nationalistischen Extremisten wahrt.
Bei der Unterhauswahl 2024 gaben viele der enttäuschten Brexit- und Johnson-Wähler der Labour-Partei von Keir Starmer ihre Stimme, der unter dem Schlagwort «Change» einen Neuanfang propagierte. Doch Starmer verspielte in Rekordzeit viel Goodwill, indem er Rentnern staatliche Heizzuschüsse strich, die Lohnabgaben für Arbeitgeber erhöhte oder die Kürzung der Sozialleistungen für Behinderte ankündigte. Nun verkörpert nicht mehr Starmer den vom Volk herbeigesehnten «Wandel», sondern Farage.
Die Häutungen der Tories
Während der vergangenen 80 Jahre war die Konservative Partei deren 50 an der Macht, in den Medien wird sie gerne als «erfolgreichste Partei der Welt» bezeichnet. Teil der Erfolgsstrategie ist, dass sie sich immer wieder wie eine Schlange gehäutet und ideologisch neu erfunden hat.
Unter David Cameron verbanden die Tories noch sozialliberale Töne mit klassisch liberaler Wirtschaftspolitik. Doch nach dem Brexit-Schock löste eine Neuausrichtung die andere ab: Johnson propagierte massive Staatsinvestitionen und eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat. Dann scheiterte Liz Truss mit einem ultralibertären Wachstumskurs. Rishi Sunak schliesslich versuchte sich als technokratischer Manager, doch war der Schaden längst angerichtet: Nach vierzehn Jahren an der Macht hinterliessen die Tories ein Land mit rekordhohen Steuern und Schulden und einer serbelnden Infrastruktur.
Wie können die Konservativen jetzt aus der Krise finden? Innerhalb der Partei scheiden sich die Geister. Der Zeitgeist weht rechts, was für einen Rechtskurs in direkter Konkurrenz zu Reform UK spricht. Der ehemalige Brexit-Chefunterhändler David Frost etwa fordert eine radikale Abkehr von den Klimazielen und einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, um härtere Abschiebungen durchzusetzen.
Zentristen wie der ehemalige Parteichef William Hague warnen mit Blick auf die jüngsten Wahlen in Kanada und Australien hingegen vor einem trumpschen Populismus. Zudem befürchten sie, dass ein Rechtsruck klassisch konservative Wähler in den wohlhabenden Dörfern und Vororten im Süden Englands abschrecken würde. Dort gruben die zentristischen Liberaldemokraten den Tories bei den Lokalwahlen das Wasser ab: Sie verdoppelten die Zahl ihrer Gemeinderäte und kamen sogar auf einen leicht höheren nationalen Wähleranteil als die gebeutelten Tories.
Farage ist in der Verantwortung
Als Volkspartei beheimateten die Konservativen stets unterschiedliche Strömungen. Doch nun drohen sie zwischen Reform UK und den Liberaldemokraten zerrieben zu werden. Die seit dem Herbst amtierende Tory-Chefin Kemi Badenoch hat nigerianische Wurzeln, wirkt quirlig und fordert Labour mit ihrem Anti-Wokeness-Kurs heraus. Doch wirkt sie allzu akademisch und schreckt vor einem klaren Richtungsentscheid zurück.
Bereits gibt es Stimmen, die Badenoch auswechseln wollen. Als möglicher Retter käme ausgerechnet Boris Johnson infrage, den die Konservativen 2023 nach der Affäre um Partys an seinem Amtssitz während des Lockdowns aus dem Amt jagten. Der Charismatiker kam sowohl bei klassischen Tories wie auch bei den von Farage umgarnten Wählerschichten im postindustriellen Nordengland gut an. Doch erinnert Farage die Wähler lustvoll daran, dass Johnson eine Mitverantwortung für den Zustand des Landes und die hohen Migrationszahlen trage.
Die britische Politik ist ein schnelllebiges Geschäft. Noch dürfen die Konservativen hoffen, dass die Erinnerung an ihre Bilanz und der Reiz von Reform UK bis zur nächsten Unterhauswahl 2029 verblassen. Die Rechtsnationalen stehen nun in 10 Gemeinden in der Verantwortung. Bereits haben sie die Entfernung ukrainischer Flaggen von den Gemeindehäusern angeordnet, was die Bevölkerung eher irritiert als freut. Zudem hat Farage versprochen, dank Kürzungen bei Diversitätsprogrammen eine bessere Kehrichtabfuhr und Strassenreparaturen bei tieferen Steuern zu bieten. Nun muss er sich an Taten messen lassen.
Hält der Höhenflug von Reform UK aber an, werden die Tories wohl naserümpfend einen Pakt mit den Rechtsnationalen prüfen. Dabei müsste die stolze Partei mit der Rolle der Bittstellerin und Juniorpartnerin vorliebnehmen. Es wäre der bisher verzweifeltste Versuch der traditionsbewussten Konservativen, sich neu zu erfinden.