Melanie Möller erzählt eine kleine Kulturgeschichte der Zensur, indem sie alte und neue Literatur nebeneinanderstellt.
Im Englischen gibt es einen Ausdruck, der seine ungemütliche Bedeutung geschickt verbirgt: «Trigger-happy». Trigger-happy hat nichts mit Glück zu tun, sondern heisst einfach «schiesswütig». Das Wort passt zu aktuellen Debatten. Wie man mittlerweile hinlänglich weiss, gibt es bestimmte Gruppen, die bereit sind, sich schnell von irgendetwas oder irgendjemand getriggert zu fühlen. Ihre Schiesswut trifft auf den Zorn derer, die sich wiederum von den allzu leicht Getriggerten getriggert fühlen.
Wer kann da helfen? Mit Melanie Möller betritt jetzt ausgerechnet eine Altphilologin die Bühne. Ihr Buch «Der entmündigte Leser» will laut Untertitel «für die Freiheit der Literatur» kämpfen und dazu auch noch Streitschrift sein. Auf welcher Seite des Streits die Professorin der Freien Universität Berlin steht, wird schnell klar. Nicht auf der Seite «toleranzwütiger Solidargemeinschaften», nicht beim «moralischen Mob» und nicht dort, wo es «links-wokisch» zugeht.
Sie verachtet «die Selbstfeier der Aufgeklärten und Humanisten». Das ist ironisch gemeint, weil aufgeklärt und humanistisch gebildet ist Möller ja selbst. Sie hat Bücher über Cicero, Ovid und Homer geschrieben. Mit diesem Wissen und grosser Energie stürmt Möller in eine Debatten-Gegenwart, die ihr durch die Cancel-Culture bestimmt scheint.
Um es gleich zu sagen: Ihr Buch rennt viele offene Türen ein. Man nickt bei fast allem, was gegen offensichtlichen Cancel-Quatsch, Zensurversuche und neue moralische Kunst-Gebote vorgebracht wird. Und man staunt über einen Wissensstand, der den Pegel der bekanntesten Cancel-Debatten der letzten Jahre nicht übersteigt. Allein durch seinen streitschrifthaften Furor wird «Der entmündigte Leser» nicht Furore machen.
Zwei mutige Frauen
Paarweise führt Melanie Möller Autoren und Bücher der letzten dreitausend Jahre vor, die es in Sachen Amoral in sich haben. So kommt Homer neben der Bibel zu stehen, der Lyriker Joseph Brodsky neben Ovid, Goethe neben Properz. Annie Ernaux teilt sich ein Podest mit Euripides. Der französische Antisemit Céline wird mit dem römischen Satiriker Petronius zusammengespannt.
Auch Sappho und Astrid Lindgren bilden ein Duo. Warum? Weil Melanie Möller es so will. Zwei mutige Frauen. Sappho hat sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung provoziert. Die einstmals als pädagogisch hochmodern geltende Astrid Lindgren wird von den Freunden des Cancelns aus der Gegenwart ausgestossen. Weil in «Pippi Langstrumpf» das N-Wort vorkommt. Am mildesten sind noch Zensurversuche, die in neuen Ausgaben ebenjenes N-Wort durch ein anderes ersetzen.
Melanie Möller sieht hier «die blutigen Messer der Kritik». Ihr sind die Texte heilig, und wenn sie für das Verstehensniveau von «Einfaltspinseln» zurechtgestutzt werden, dann ist Feuer am Dach. Ab einer gewissen Grössenordnung wäre es mit Zurechtstutzung allerdings nicht mehr getan. Das Werk des verbitterten Misanthropen Louis-Ferdinand Céline, dem Möller «eine gewisse Abkehr vom Gutmenschentum» attestiert, müsste man schon als Ganzes in den Giftschrank sperren. Die Bibel im Grunde auch.
Im amerikanischen Gliedstaat Utah haben besorgte Eltern im letzten Jahr unter Berufung auf das neue Gesetz Sensitive Materials in Schools ein Dossier über die Heilige Schrift angelegt. Sie sei «eines der sexgeladensten Bücher überhaupt». Es kämen darin vor: «Inzest, Masturbation, Sodomie, Prostitution, Genitalverstümmelung, Oralverkehr, Dildos, Vergewaltigung und sogar Kindsmord.» Als Anregungsmedium für Verbrechen aller Art war die Bibel zwar bisher nicht bekannt, aber man will offensichtlich schon einmal vorbauen.
Was der Grossessay «Der entmündigte Leser» implizit, aber leider viel zu wenig explizit sagt: Jeder Zensur geht eine Selbstentmündigung der Zensoren voraus. Sie misstrauen ihrer eigenen kritischen Kompetenz und entscheiden sich für Vereinfachung. Damit alles einfach bleibt, müssen auch alle anderen so einfach denken wie sie selbst.
Altphilologen wie Melanie Möller sind versierte Experten der Hermeneutik. Sie versuchen Texte aus längst verblichenen Sprachen und versunkenen Kulturen in ein Heute herüberzuretten, das sich mit literarischen Komplexitäten schwertut. Gerade Mythologien, Metaphern passen nicht zu Lektüren, die alles nur lebensweltlich sehen und Literatur als den verlängerten Arm einer weltverbessernden Moral begreifen.
Hier hätte Melanie Möllers Buch vielleicht ansetzen müssen. Man hätte die Cancel-Culture als eklatantes Wissensdefizitproblem zeigen können. Die Cancel-Culture, ob von links oder rechts, entsteht aus blinden Flecken. Und diese blinden Flecken werden mit Zähnen und Klauen verteidigt.
Cancel-Culture beginnt mit Wissenslücken
Man kann nicht sagen, dass nicht auch Melanie Möllers Buch in diesem Sinn seine Schwächen hat. Allerdings handelt es sich hier eher um eine Déformation professionnelle. Die Fälle, bei denen ein moralischer Mob Klassikern wie Homer, Ovid, oder Catull an die Wäsche will, werden nicht allzu viele sein.
Umso rührender ist es deshalb, wie hoch Möller die heutige Bekanntheit zum Beispiel eines Petronius einschätzt: «Kaum jemand, der nicht vor Augen hat, wie er, ähnlich Seneca und Lucan, von Nero des Verrats im Rahmen der Pisonischen Verschwörung für schuldig befunden wird.»
Bei einer Diskussion über den «Entmündigten Leser» im deutschen RBB-Radio wusste der Moderator nicht einmal, wer Euripides ist. Das klinge nach einem Präparat, das man sich in der Apotheke hole. So weit zum Wissensstand in der Gesellschaft. Die wahre und wirklich epidemische Cancel-Culture findet dort statt, wo die Menschen keine Ahnung mehr, dafür aber immer mehr Meinungen haben.
Von Annie Ernaux hat Melanie Möller etwas Ahnung, allerdings auch eine sehr explizite Meinung. Sie schickt die französische Schriftstellerin mit Euripides ins Rennen und vergleicht sie mit dessen Figur Medea. Zwei starke Frauen!
Ernaux’ «politische Einlassungen im öffentlichen Raum», zum Umstand, dass die Autorin «durch Kritik an Israel tabubrechend hervorgetreten» ist, verhält sich Möller eigenwillig ambivalent. Ist es schon ein Versuch des Cancelns, wenn Ernaux wegen ihrer Unterstützung für die Israel-Boykott-Bewegung BDS Gegenwind erhält? Hier geht es einerseits um feine Linien der Definition und andererseits um den persönlichen Zickzackkurs politischer Gefühle, von dem auch das Buch «Der entmündigte Leser» nicht ganz frei ist.
Melanie Möller: Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift. Galiani-Verlag, Berlin 2024. 240 S., Fr. 34.90.