Seit der Jahrtausendwende war ein Börsenaufschwung nicht mehr von so wenigen Aktien getrieben. 1998 waren die Nebenwerte eingebrochen. Doch heute wird oft vergessen, dass die Small Caps 1999 stark zu steigen begannen. Die Geschichte könnte sich wiederholen.
In den nächsten Monaten ist die Entwicklung der Zinssätze entscheidend für die Aktienmärkte. Im Oktober drehten die Börsen nach oben, als die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihen von 5 auf 3,8% fiel. Inzwischen liegt die Rendite wieder bei 4,3%, und nach den Anleihekursen bremst dies jetzt auch bei den Aktienkursen.
Tatsächlich sind die Märkte – besonders Wallstreet – mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 23 bis 24 auf die Vergangenheitsgewinne gerechnet (KGV 21 auf Zukunftsgewinne) im Vergleich zum heutigen Zinsniveau zu hoch bewertet. Wallstreet geht davon aus, dass die Zinsen in diesem Jahr dreimal gesenkt werden (am Jahresanfang ging man noch von sieben Zinssenkungen aus), was dann (allerdings erst später im Jahresverlauf) Rückenwind für die Aktienmärkte bedeuten dürfte.
Wie sicher sind aber die kommenden Zinsrückgänge?
Teure Benzin- und Mietpreise nehmen Anlegern die Hoffnung
Zuletzt stiegen die US-Inflationsraten zweimal hintereinander und besonders die Kernrate ist mit 3,8% noch weit vom Notenbankziel von 2% entfernt. Das gilt besonders für die Service-Kernrate, die noch bei 5,2% liegt. Zudem sieht es nicht danach aus, dass in den nächsten Monaten eine Entlastung von der wichtigen Energiepreisseite kommt. Zuletzt stiegen die US-Benzinpreise deutlich.
Aber besonders die Service-Preise entwickeln sich zuletzt nur seitwärts im Gegensatz zu den bisher stark gefallenen Güterpreisen, wo die Kernrate schon unter null liegt. Damit ist eine weitere Entlastung von den Güterpreisen eher unwahrscheinlich.
Vor allen Dingen die US-Mietpreise, die zusammen mit den Kosten der Wohnungsbesitzer in der Kernrate über 40% zur Inflation beitragen, entwickeln sich bisher nicht im erhofften Ausmass abwärts. Berücksichtigt man, dass drei bis vier Millionen Wohneinheiten in den USA fehlen und die Preise für gebrauchte Immobilien schon wieder steigen, fragt man sich, inwieweit die Mietinflation (bzw. die Inflation für den gesamten Service-Bereich) weiter zurückkommen kann.
Während man am Jahresanfang noch von einer ersten Zinssenkung im März ausging, erwarten die Marktteilnehmer, dass vor dem Hintergrund der Inflationsentwicklung die erste Zinssenkung tatsächlich im Juni stattfinden wird (Markteinschätzung 65%). Vor den jüngsten Fed-Äusserungen vom 20. März, die der Markt optimistisch interpretierte, galt nicht einmal mehr die Juni-Senkung als sicher. Ohne Aussicht auf baldige Zinssenkung dürften die Aktienkurse aber zunächst stagnieren. Das gilt sowohl für die USA, als auch für Europa.
Lagarde ist in Gefahr, erneut zu spät zu handeln
Bisher scheint die Europäische Zentralbank (EZB) nicht von ihrer Tradition abzurücken, erst nach der US-Zentralbank zu reagieren. Bekanntlich folgte die EZB der US-Notenbank mit gehörigem Abstand, als das Federal Reserve System (Fed) im März 2022 begann, erstmals die Zinsen zu erhöhen. Nachdem beide Notenbanken zu spät auf die Inflation reagierten (mit ihren Zinsanhebungen; in Sachen Liquidität fand in den USA ohnehin keine Inflationsbekämpfung statt), besteht jetzt die Gefahr, dass man mit den Senkungen zu lange wartet.
Trotz vereinzelter positiver Überraschungen bei der US-Konjunktur (zum Beispiel mehr neu geschaffene Arbeitsplätze) häuften sich zuletzt doch Meldungen, die eine schwächere Konjunktur ankündigen. Das gilt zunächst einmal für den sehr wichtigen US-Konsum. Der starken Abschwächung im Januar folgte eine Erholung im Februar unter den Erwartungen. Zwar stützen die bei gut 4% liegenden US-Lohnerhöhungen den Konsum, übersehen wird aber der stetige Abwärtstrend der wöchentlichen Arbeitszeit.
Kaum beachtet scheint auch der jüngste Anstieg der Arbeitslosenrate auf 3,9% und die Tatsache, dass sich die US-Verbraucher kaum mehr durch noch höhere Kreditkartenschulden (Zins 22%!) oder eine weitere Herabsetzung der Sparquote in ihrem Konsum verausgaben können: Die Sparquote liegt bereits nahe der historischen Tiefs.
China exportiert Deflation
Die disinflationäre Tendenz dürfte die Gewinnentwicklung der US-Unternehmen belasten. Eine Umfrage bei den kleineren US-Unternehmen (die 70% der Hauptarbeitsplätze in den USA bereitstellen) ergab, dass man weniger Einstellungen vornehmen will, weniger investieren wird, die Lager verringern möchte und dass die Gewinnmargen belastet bleiben.
Dies dürfte bei vielen Unternehmen mit den billigen chinesischen Importen von Konkurrenzprodukten zu tun haben. Nicht nur die Preise der gebrauchten US-Automobile fallen weiter zurück, sondern auch generell viele Produktpreise. Bei steigenden chinesischen Exporten nach Europa und die USA dürfte dies von Automobilen bis zu Haushaltswaren für all jene Güter gelten, bei denen hohe chinesische Überkapazitäten bestehen.
Die wachsende Konkurrenz führt zu fallenden Preisen, was besonders die Hersteller von Elektro-Automobilen betreffen dürfte. Die deutschen Top-Automobilproduzenten aus dem Verbrenner-Sektor dürften hier aber in einer wesentlich besseren Situation sein, als jene, die sich primär auf die Elektro-Autoproduktion konzentrieren, da der Markt für EV-Autos in den USA mit 8% gesättigt scheint.
Gegenwind von Notenbanken und Fiskalpolitik
Die Weltbörsen dürften voraussichtlich zunächst also nicht durch Zinssenkungen positiv stimuliert werden. Da auch die Notenbankbilanzen weiter programmgemäss vermindert werden, dürfte auch von dieser Seite eher Gegenwind als Rückenwind für die Aktienmärkte zu erwarten sein. Berücksichtigt man, dass neben den Liquiditätshilfen der Notenbank in den USA (0,5 Bio. $ in der Bankenkrise vom Frühjahr 2023 sowie 1,8 Bio. $ durch die Abnahme der Reverse-Repo-Fazilität) die US-Konjunktur im Wesentlichen durch das unerwartet hohe Staatsdefizit von 6% in den USA gestützt und vorangetrieben wurde, so fragt man sich, wie die fiskalpolitische Einflusskomponente auf die Weltbörsen in diesem Jahr sein wird.
In Europa wird Deutschland durch die Schuldenbremse weiter fiskalpolitisch deutlich weniger stimuliert als zum Beispiel in den USA durch die dortige Neuverschuldung. Allerdings wird die Konjunktur der Mittelmeerländer durch die exorbitante, früher nicht erlaubte eigene Verschuldung der EU stimuliert. Während Deutschland hier fast nichts (max. 25 Mrd. €) abbekommt, sind die EU-Zuwendungen und Kredite für Länder wie Italien beträchtlich (191 Mrd. € bis 2027). Entsprechend gut (unterstützt durch die Rechtsaussenregierung) entwickelten sich die italienische Konjunktur und auch der italienische Aktienmarkt.
Da es für die Weltfinanzmärkte als beschlossene Sache gilt, dass Deutschland für die hohen Schulden der Mittelmeerländer (Schuldenrekorde in Frankreich und Italien) haftet, ist die Differenz zwischen der Verzinsung italienischer und deutscher Staatsanleihen massiv auf gut 1,2 Prozentpunkte für 10-jährige Staatsanleihen gefallen.
Die Chancen für eine Small-Cap-Rally wie 1999 stehen gut
Auffällig an den Weltbörsen bleibt die Tatsache, dass der Börsenaufschwung seit Oktober 2022 ganz überwiegend von sehr wenigen grossen Technologie-Titeln getrieben wird. Nicht nur im letzten Jahr, auch in diesem Jahr wird der S&P 500 primär von diesen Aktien in seinem Aufschwung getragen.
Nvidia machte in diesem Jahr durchschnittlich etwa 40% des S&P 500-Anstiegs aus, Amazon, Microsoft und Meta weitere 20%. Der restliche S&P 496, der noch im Januar vorübergehend gar nicht zum Anstieg beitrug, erklärte zuletzt ein gutes Drittel des Index-Anstiegs. Die letzte Periode, in der Vergleichbares stattfand, war um die Jahrtausendwende. Damals fielen die kleineren Aktien (Small Caps) besonders 1998 in einer selten extremen Bewegung stark zurück.
Was heute übersehen wird, ist die Tatsache, dass 1999 eine starke Erholung der US-Small-Caps (gemessen am S&P 600) stattfand.
Die grosse Frage ist also, ob es auch jetzt zu einer ähnlichen Erholung kommen kann, wie sie sich 1998/1999 bei den kleineren Aktien entwickelte. Berücksichtigt man, dass sowohl in den USA als auch in Europa und in Asien (dort am meisten in Hongkong) die Bewertungen von kleinen Aktien bezogen auf Gewinn und Substanz im historischen Vergleich niedrig sind, wäre eine kräftige Erholung in diesem Sektor durchaus vertretbar – unter der Voraussetzung, dass es nicht international zu einer Rezession kommt.
Aus heutiger Sicht ist eine leichte Wirtschaftsabschwächung international eher wahrscheinlich als eine scharfe Konjunkturerholung. International immer noch relativ hohe Staatsdefizite bzw. fiskalpolitische Stimulierungen dürften einen grösseren Konjunktureinbruch bzw. eine scharfe Rezession, wie sie zuletzt in der Finanzkrise 2007 bis 2009 stattfand, aber eher unrealistisch machen.
Da auch markttechnisch gesehen die kapitalkräftigen Institutionen in den kleineren umsatzschwachen Small Caps im historischen Vergleich sehr niedrig investiert sind, wäre eine fundamental und technisch begründete Erholung bei kleineren Werten nicht ausgeschlossen. Die grossen Wachstumstitel dürften nach den Kurssteigerungen seit Oktober 2022 bei vielen Werten ausreichend bewertet sein, so dass in diesem Sektor eher eine Konsolidierung realistisch erscheint.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der «Finanzwoche», dem seit 1974 erscheinenden Investmentbulletin von Jens Ehrhardt.
Jens Ehrhardt
Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Firmengruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.