Um endlich profitabel zu werden, setzt Nio auf hohe Stückzahlen und tiefe Preise. Doch die Konkurrenz ist stark, und die Herausforderungen sind gross. Können die neuen Nio-Submarken Onvo und Firefly wirklich den Markt erobern, oder droht ein weiteres finanzielles Fiasko?
Vor zehn Jahren machte er sich daran, die Erfolgsgeschichte von Tesla auf chinesische Art zu wiederholen: Li Bin oder William Li, wie er ausserhalb Chinas genannt wird. Er gründete Nio, ein Startup für elektromobile Lösungen, und holte die chinesischen Internetgiganten Baidu, Tencent und Lenovo ins Boot.
So wollte er ohne Altlasten, aber mit frischen Ideen und schlanken Strukturen westlichen Automarken die Kundschaft streitig machen. Umgehend entwickelte Nio eine skalierbare Fahrzeugplattform, mit der ab 2021 das erste Kundenauto ausgestattet wurde. Zunächst für den chinesischen Markt, wenig später auch für eine internationale Kundschaft. Was Tesla schafft, kann Nio besser, glaubte Li damals.
Covid warf Nio um Jahre zurück
Doch die Pandemie traf den Newcomer härter als etablierte Marken mit besseren finanziellen Reserven. Nio hat sich von der Krise nie komplett erholt und verkauft seither weniger Fahrzeuge als geplant, 2024 nur noch rund 20 000 im Monat.
Auch zehn Jahre nach Gründung der Marke schreibt Nio mit acht Modellen auf dem Markt noch keine schwarzen Zahlen. Kumuliert wurden bis zum 30. November 2024 nur 640 426 Einheiten verkauft.
Galt bisher 2025 als Jahr der Wende, so ruft Li in diesen Tagen 2026 als Schicksalsjahr aus. Dazu sollen kleinere und günstigere Modelle beitragen. Mitte 2024 wurde die Nio-Submarke Onvo (Abkürzung für On Voyage oder auf Reisen) eingeführt, ein halbes Jahr später Firefly, dessen Name noch als Platzhalter gilt.
Während Onvo mit dem SUV-Coupé L60 für junge Familien bereits im Kompaktwagensegment unterwegs ist und Mitte 2025 ein weiteres SUV folgen soll, schiebt Firefly in den kommenden Monaten einen viersitzigen Kleinwagen nach. Mit beiden Submarken will Nio dank hohen Skaleneffekten zum Volumenhersteller aufsteigen. Allein für Onvo peilt der Nio-Chef Li 240 000 Einheiten pro Jahr an. Wie das funktionieren soll, erklärte er vor mehr als 22 000 Nio-Fahrern auf dem jährlichen Nio Day Ende Dezember im südchinesischen Guangzhou.
Mit den günstigen Fahrzeugen von Firefly und Onvo will Li gegen das weltweit erfolgreichste Elektroauto, den Tesla Y, antreten. Der kostet derzeit ab 45 000 Euro. Firefly ruft für seinen Viertürer im Golf-Format einen Kampfpreis von umgerechnet 14 000 Euro auf. In Europa soll der Einstiegsstromer, dessen Leuchten-Design an die Kameralinsen von Smartphones erinnert, für deutlich unter 25 000 Euro gegen den kommenden Volkswagen ID.2 und seine Derivate von Skoda und Cupra antreten.
Ermöglicht werden die niedrigen Preise durch die Verwendung vieler identischer Komponenten aus dem Nio-Sortiment und den Rückgriff auf bestehende, eingespielte Lieferketten, wie Li erklärt. Zudem können die Fahrzeuge beider Submarken die weit über tausend Nio-Batteriewechselstationen in China nutzen, von denen es in Europa bis jetzt nur sehr wenige gibt.
Für die EU wird auf zollgünstigere Hybridautos umgestellt
In einem weiteren Schritt wird Firefly auch eine günstigere Batterie mit geringerer Leistung anbieten. Zur Reichweitenverlängerung soll dann ein kleiner Verbrennungsmotor an Bord sein. Das Hybridauto solle aber nur ausserhalb Chinas angeboten werden, heisst es. Clever, denn in Europa fallen für Hybride keine Strafzölle an, die für Nio-Elektroautos 20 Prozent betragen.
Offenbar hat William Li erkannt, dass Nio mit hohen Gewinnmargen im Premiummarkt nicht überleben kann. Die Pionierzeit für Elektroautos ist vorbei, und für Premiumprodukte wenig bekannter Marken wie Nio werden nur ungern hohe Aufschläge gezahlt. Li setzt auf Produkte für die unteren Marktsegmente, die dank grösseren Stückzahlen durchaus profitabel sein können. Dabei dürfte er das Angebotsvakuum in Europa im Blick haben, aber auch den chinesischen Markt, wo die Nachfrage nach höherwertigen Kleinwagen mittlerweile langsam steigt.
Dass Onvo keine Billigautos produzieren will, zeigt sich am Beispiel des Onvo L60. Das 4,83 Meter lange SUV wiegt dank einer Stahl-Aluminium-Struktur weniger als zwei Tonnen. Wir fahren in China die lokale Topversion mit Allradantrieb, die mit durchdachten Details überrascht.
Der L60 hat mit einem cW-Wert von 0,23 den niedrigsten Luftwiderstandsbeiwert eines Serien-SUV und verbraucht im Schnitt nominal 12,1 kWh je 100 Kilometer nach chinesischem Messzyklus, in Europa wäre der Wert deutlich höher. Wir haben an einigen Tagen 13,8 kWh je 100 km verbraucht, was einem guten Praxiswert entspricht. Die keilförmige Front und der hohe Heckabschluss erinnern stark an den Tesla Y, mehr Individualität zeigt sich im Innern des L60.
Bereits vor Fahrtantritt hinkt der Onvo allerdings dem Tesla hinterher: Um den L60 zu entriegeln und das System zu starten, legen wir eine Schlüsselkarte auf die B-Säule der Fahrerseite, doch erst nach einigen Sekunden Reaktionszeit öffnet sich die Tür. Danach muss die Karte in die Mittelkonsole gelegt werden, wo unterwegs das Smartphone aufgeladen wird. Sie darf nicht in der Hosentasche verschwinden, sonst fährt das Auto nicht los. Auch das Öffnen der Türen von innen durch zweimaliges Drücken eines elektrischen Schalters irritiert. Einen mechanischen Türöffner gibt es nicht.
Schliesslich sitzt man bequem auf vielfach elektrisch verstellbaren Sitzen mit gutem Seitenhalt und blickt auf ein Armaturenbrett, das schlichter nicht sein könnte. Nur mit zwei Einheiten kann man interagieren: dem hochauflösenden 17,2-Zoll-Tablet in der Mitte und dem abgeflachten, sehr griffigen Lenkrad mit zwei Rollschaltern. Während nahezu alle Funktionen per Berührung oder per Sprachbefehl gesteuert werden, dienen die Rollschalter Sekundärfunktionen wie der Spiegelverstellung, aber auch dem Start der autonomen Fahrfunktionen.
Mit dem Hebel rechts an der Lenksäule werden die Fahrstufen gewählt. Nur der Blinkerhebel links erinnert an europäische Autos. Auf eine Cockpit-Instrumentierung wurde zugunsten eines 13 Zoll grossen Head-up-Displays verzichtet. Alle primären Fahrinformationen werden auf die Windschutzscheibe projiziert. Für die Fondpassagiere gibt es ein kleines 8-Zoll-Display in der Mittelkonsole zur Einstellung von Komfortfunktionen.
Alle vier Sitze sind belüft- und beheizbar, die vorderen verfügen über Massagefunktionen. Leider lassen sich die Luftströme der indirekten Klimaanlage nicht über mechanische Schieberegler steuern, sondern nur über das entsprechende Untermenu im Zentraldisplay, was umständlich ist und vom Fahren ablenkt. Stattdessen kann man von jedem Platz aus mit dem KI-gestützten Sprachroboter «Xiaole» kommunizieren und erhält über Lautsprecher in der Nähe des Sitzes ein lokales Feedback.
Die Bewegungsfreiheit auf allen Plätzen mit Ausnahme des hinteren Mittelsitzes ist beeindruckend und eine der grössten Qualitäten des Kompakt-SUV. Auch grossgewachsene Passagiere können im Fond bequem die Beine übereinanderschlagen. Die Kopffreiheit unter dem zweiteiligen Schiebedach, das UV-Licht zu 99,9 Prozent filtert, sorgt für eine helle Atmosphäre, der bequeme Einstieg durch weit öffnende Türen gefällt. Für den Beifahrer gibt es zudem eine ausziehbare, beheizbare Wadenauflage.
Bei umgelegten Rückenlehnen der Vordersitze können Schlafplätze für zwei Erwachsene eingerichtet werden. Als Zubehör bietet Onvo eine ausrollbare Nivelliermatratze an, die ein durchgehendes Doppelbett ermöglicht.
Erstmals Bordsystem mit 900 Volt
Die Antriebstechnik des Onvo L60 entspricht dem neuesten Stand der Technik. Das eigenentwickelte, weltweit erste Bordnetz mit 900 Volt, das auch bei Firefly zum Einsatz kommen soll, ist wahlweise mit einer 60 kWh grossen LFP-Batterie (Lithium-Eisenphosphat) von BYD oder einer 85 kWh grossen NMC-Batterie (Nickel-Mangan-Cobalt) von CATL ausgestattet.
Die Akkus reichen gemäss Werk für 555 bzw. 730 km Reichweite. An einer üblichen Schnellladesäule laden wir den grösseren Akku nach 300 km mit einer Restreichweite von 65 km. Bis 100 Prozent vergehen lange 1:15 Stunden, obwohl Onvo verspricht, in 10 Minuten 200 km Reichweite nachladen zu können.
Eine Semi-Feststoffbatterie mit 150 kWh Kapazität soll folgen, sobald der Zulieferer (vermutlich CATL) die Zellen in Serie produziert. Diese Batterie, die für hohe Ströme und sehr kurze Ladezeiten ausgelegt ist, wird nur in einem Leasing-Paket erhältlich sein. Sie soll eine Nennreichweite von zirka 1000 Kilometern ermöglichen.
Obwohl der wassergekühlte Synchronmotor an der Hinterachse 240 kW (326 PS) leistet und der vordere Asynchronmotor mit 100 kW (136 PS) ergänzt, bietet das Familien-SUV L60 keine sportlichen Fahrleistungen. Im Gegenteil, die Entwicklungsziele Fahrkomfort und eine auf hohe Sicherheit ausgerichtete Fahrdynamik bremsen den Fahrspass: Der weich federnde und in Kurven früh zum Untersteuern neigende Onvo wird von Traktionskontrolle und Stabilitätsprogramm energisch eingebremst, die lineare Lenkung ist gefühllos. Damit aber erfüllt der L60 die Erwartungen chinesischer Kunden an komfortables Reisen.
Die autonomen Fahrfunktionen NOA (Navigate on Autopilot) überzeugen durch ihre Zuverlässigkeit. Überholmanöver auf Schnellstrassen, sicheres Einfädeln und Abbiegen im Stadtverkehr wie auf Landstrassen oder vollautomatisches Ein- und Ausparkieren ohne Fahrereingriff überzeugen. Mehr als dreissig Hochleistungssensoren, darunter sechs Lidar-Sensoren, sieben Kameras, ein Millimeterwellenradar und 22 Ultraschallsensoren liefern Informationen von der Umgebung, die ein Nvidia-Chip des Typs Orion X verarbeitet. Der Chip gleicht die Daten mit eingespeisten Szenarien ab, die 99,9 Prozent der Verkehrssituationen auf chinesischen Autobahnen und innerstädtischen Strassen in 726 Ballungsräumen abdecken. Li spricht von 3,8 Millionen validierten Strassenkilometern.
Doch genau auf diesen reichen Erfahrungsschatz werden europäische Kunden beim Markteintritt von Onvo und Firefly im Jahr 2025 wohl vorerst verzichten müssen – und vor allem selbst das Steuer in die Hand nehmen. Denn die für den Szenario-Abgleich erforderlichen Daten müssen in Europa erst noch gesammelt werden.
Da zudem beide Marken und ihre Infrastruktur in Europa erst noch aufgebaut werden müssen, ist zu befürchten, dass die avisierten hohen Stückzahlen mithilfe europäischer Märkte kurzfristig kaum erreichbar sein werden. Wenn sein Traum vom Nio-Volumenhersteller wahr werden soll, muss William Li eher mittelfristig planen.