Mehr noch als die Südkoreanerin Han Kang wurde die Chinesin Can Xue als Nobelpreis-Favoritin aus Asien gehandelt. Ihr Schreiben lässt sich mit der «écriture automatique» der Surrealisten vergleichen. Dennoch besitzt ihr Somnambulismus politische Sprengkraft.
Die Kinder sind bei Can Xue oft die Schlimmsten. Sie schlagen mit Stöcken nach Vögeln und zielen mit Schleudern auf sie. Sogar die eigenen Eltern haben Angst vor ihnen. Vor dem kleinen Tusheng zum Beispiel, der andere gern anschreit: «Du bist des Todes!!» So bedroht er auch den Erzähler, der Pfötchen und Fell hat und eine Art Maus sein muss. Oft sind es Tiere, die in Can Xues neuem Erzählband «Schattenvolk» sprechen. Es sind gutherzige Wesen, die in den düsteren Siedlungen der Menschen zu überleben versuchen. Manchmal dürfen sie am warmen Herd übernachten, plötzlich aber werden sie gejagt, geschlagen oder sogar vergiftet. Menschen ist bei Can Xue nicht zu trauen.
Diese Übergriffe lassen an die chinesische «Kampagne zur Ausrottung der vier Plagen» denken. Im Jahr 1958 ging es Ratten, Fliegen, Mücken und Sperlingen grossflächig an den Kragen. Das wirkte sich besonders verheerend auf die Vogelpopulation aus, führte zu massenhaft Schädlingen auf den Feldern und bald darauf zur Grossen Hungersnot. Die 1953 in Changsha/Hunan geborene Autorin Can Xue hat all dies miterlebt. Sie war damals selbst ein Kind. In ihren Traum-traumatischen Geschichten steigt daher oft «eine dunkle Ahnung von weit zurückliegenden Erinnerungen» auf.
Mit Verzug auf Deutsch
Can Xues Geschichten haben zumeist keinen stringenten Plot, verlieren zwischendurch einen Teil ihrer Figuren und gewinnen ebenso überraschend neue hinzu. Sie spielen in eigenartig wandelbaren Räumen und tasten sich oft durch lichtlose Zimmer, Keller und Tunnel. Manchmal werden Gräber ausgehoben oder Löcher gebuddelt, aus denen bleiche Knochen wie Blumen ragen.
Oft weiss man nicht einmal, ob man sich gerade über oder unter der Erde befindet. Dabei gilt es immer, die glühende Sonne zu meiden, die natürlich an Mao Zedong denken lässt, der gerne mit Aureole abgebildet wurde. Denn: «Wer würde es wagen, gegen die Sonne anzutreten?» Wo der Autorenkollege Yan Lianke (geboren 1958) in seinem albtraumhaften neuen Roman den «Tag, an dem die Sonne starb», beschreibt, schickt Can Xue ihre Figuren in den Untergrund und macht sie zum «Schattenvolk».
Auf Deutsch lässt sich Can Xues Werk erst seit kurzem entdecken, auch wenn mit «Dialoge im Paradies» bereits im Jahr 1996 im Bochumer Projektverlag eine erste spektakuläre Erzählsammlung erschien. Danach tat sich hierzulande 25 Jahre lang nichts mehr, während ins Englische Werk um Werk übersetzt wurde. 2021 erschienen dann ihr Roman «Die Liebe im neuen Jahrtausend» und nun auch die Erzählsammlung «Schattenvolk» im Berliner Verlag Matthes & Seitz, der momentan die interessantesten Titel aus China verlegt.
In «Dialoge im Paradies» erinnert sich der Übersetzer Wolf Baus, was für eine Sensation es 1985 für ihn war, erstmals eines der finsteren Frühwerke von Can Xue auf Chinesisch zu lesen. Es war die auch im Band enthaltene Erzählung «Die Hütte auf dem Berg», und sie erschien kurz nach Ende der kulturpolitischen «Kampagne gegen geistige Verschmutzung», was also nicht ganz ungefährlich war. Schliesslich sei dies nach den Massstäben des auf Erbaulichkeit, Tatkraft und positives Heldentum abonnierten sozialistischen Realismus doch eine verblüffend «kranke Geschichte» gewesen, so Baus. Und tatsächlich wurde die Autorin über längere Zeit als paranoid beschimpft, allerdings nicht weiter bestraft.
Emotionales Elend
«Die Hütte auf dem Berg» umfasst nur viereinhalb Seiten und erzählt von einer Familie, in der sich alle hasserfüllt belauern, mit vor Schreckhaftigkeit zuckenden Gesichtern. Verlässt die junge Erzählerin für einen Moment das Haus, durchwühlen die anderen schamlos ihre Schublade. Albtraumhafte Sequenzen voller Wölfe, Scheren, Brunnen und heulender Winde durchziehen den Text, so dass der Vater bereits an Selbstmord gedacht hat. Die frühen Texte von Can Xue sind emotionales Elend durch und durch und in ihrer Tristesse kaum zu überbieten.
Mit dreissig begann sie zu schreiben, also im Jahr 1983. Es waren die kurzen Jahre des kulturellen Heisshungers: Mao Zedong war tot und das Massaker am Tiananmen noch ein paar Jahre hin. Viele chinesische Autoren haben damals radikal experimentiert, sich nach 1989 aber stark gemässigt. Dafür kritisiert Can Xue ihre Kollegen scharf, auch den Literaturnobelpreisträger Mo Yan und den berühmten Yu Hua, womit sie sich in literarischen Kreisen wenig Freunde machte: «Ich habe fast alle Autorenkollegen und Kritiker schon einmal beleidigt», sagt sie in einem Interview schulterzuckend.
Sie selbst schrieb unbeirrt weiter. Jeden Tag eine Stunde. Dabei flössen die Texte ungeplant aus ihr heraus, sagt Can Xue. Sie strukturiere ihre Sachen nicht, nicht einmal ihre inzwischen zahlreichen und auch relativ umfangreichen Romane, denen man sich daher nur völlig erwartungsfrei stellen sollte.
Man kann Can Xues Schreiben mit der «écriture automatique» der Surrealisten vergleichen, die sie schätzt. Verwandt fühlt sie sich auch der Tänzerin Isadora Duncan (1877–1927), die die strengen Formen des klassischen Balletts hinter sich und ihre Bewegungen – ohne Schuhe und Korsett – der spontanen Intuition ihres Körpers folgen liess. Entsprechend nennt Can Xue ihre Arbeit als Autorin oft eine «Performance». Denn Schreiben sei für sie weniger ein intellektueller als ein körperlicher Vorgang. «Ich habe irgendwann verstanden», notiert Can Xue in einem Text für den «Guardian», «dass mein Schreiben eine ganz eigene Art der Performance war – die Performance meiner Seele.»
Alle ihre Texte seien autobiografisch, sagt Can Xue, was aber nicht datenfaktisch zu verstehen ist, sondern allenfalls atmosphärisch oder traummotivisch. Ängste, Beklemmungen und auch Rachegelüste spielen eine Rolle, aber auch zunehmend Neugier und Begehren, die den Geschichten Energie und Erzählrichtung geben.
Konkrete biografische Angaben zur vielfachen Umsiedlung und Bestrafung von Can Xues Familie finden sich nur in ihrer frühen Erzählung «Sommertage im schönen Süden». Ihre kommunistischen Eltern wurden im Zuge der Anti-Rechts-Bewegung 1957 als Rechtsabweichler zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Zwei Jahre später brach als Folge des «Grossen Sprungs nach vorn» die Grosse Hungersnot aus. Die völlig verarmte neunköpfige Familie bezog zwei 10-Quadratmeter-Hütten in der Nähe von Changsha, wo die Grossmutter verhungerte und die abgemagerten Hinterbliebenen ihr Blut tranken.
Allmähliche Aufhellung
Die Grundschule konnte Can Xue 1966 gerade noch abschliessen, bevor die Kulturrevolution losbrach. Wieder wurden die Eltern verfolgt, in Arbeitslagern inhaftiert, die Kinder ebenfalls aufs Land geschickt. Can Xue boxte sich durch, arbeitete mal hier, mal dort, bevor sie sich gemeinsam mit ihrem Ehemann das Nähen beibrachte und 1983 eine Schneiderei eröffnete. Im selben Jahr begann sie zu schreiben. Auch viel Lektüre holte sie nach. Sie begeisterte sich für Kafka, Borges und Calvino, schrieb buchlange Literaturkritiken und beschäftigt sich bis heute mit westlicher Philosophie (die ihr aber zu verkopft, also zu unkörperlich ist).
Über die Jahrzehnte sind Can Xues Texte heller geworden. Zunehmend schleicht sich ein slapstickhafter Humor hinein, etwa wenn sie in ihrem Roman «Liebe im neuen Jahrtausend» vom wilden Beziehungschaos im Umfeld eines Bordells erzählt. Dort arbeiten ihre selbstbewussten Frauenfiguren jedenfalls deutlich lieber als im flusigen Staub einer Baumwollfabrik. Ein hochkomischer Text, in dem aber auch gealbträumt und gebuddelt wird, ein unheimlicher Informant herumschleicht und manchmal jemand ins Lager kommt.
Man könnte meinen, man langweile sich in den disruptiven Träumen einer 71-jährigen Chinesin, zumal wenn sich diese auf Romanlänge ausweiten. Can Xue hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis, was sich auch an ihren umfangreichen Antworten in Interviews zeigt.
Tatsächlich können sich wiederholende Motive ein Gefühl von Eintönigkeit verursachen. Wer sich aber lockermacht, wird auf vibrierende Weise hellwach. Denn man kann Can Xues Figuren nicht bloss zuschauen, sondern gerät mitten hinein in eine grosse literarische Erfahrung. Can Xues Geschichten ziehen hinunter ins eigene Unterbewusste. Ihre Seelenperformance sucht den Kontakt zur Seele des Lesers. Wer Can Xue lesen will, muss mitperformen.
Can Xue: Schattenvolk. Roman. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 366 S., Fr. 38.90.