Jüdische Studierende und Professoren an der Columbia-Universität haben unterschiedliche Meinungen über die propalästinensischen Campus-Proteste. Manche fühlen sich bedroht, andere sagen, man dürfe die Kritik an Israel nicht mit Judenhass verwechseln.
Nachdem die Polizei am 30. April die besetzte Hamilton Hall und die Zeltsiedlung auf dem Campus der Columbia-Universität geräumt und über 100 Studierende verhaftet hatte, ist es ruhig geworden. Wer nicht auf dem Gelände wohnt oder arbeitet, hat keinen Zugang. Die Eingangstore werden von Polizisten bewacht. Dutzende von Journalisten und Kameraleuten stehen in Erwartung neuer Proteste herum, aber es gibt nichts Aufsehenerregendes zu berichten.
Der Antisemitismusvorwurf als Keule
Es ist viel die Rede von der antisemitischen Schlagseite der amerikanischen Studentenproteste gegen den Gaza-Krieg. Allerdings sind die Ansichten darüber selbst unter Juden und Israeli an der Universität geteilt. Am 10. April schrieben 23 jüdische Fakultätsmitglieder der Columbia University und des Barnard College einen offenen Brief an die Präsidentin Nemat Shafik, in dem sie sich dagegen wehrten, dass der Antisemitismusvorwurf als Keule gegen Israel-Kritiker und gegen die Universität als Ganzes verwendet werde. Aus ihrer Sicht werden insbesondere die Eliteuniversitäten von der Rechten als Orte der «woken Indoktrinierung» und als Brutstätten des Judenhasses dargestellt, um sie besser kontrollieren und zensurieren zu können.
In Anlehnung an die Kommunistenjagd in den fünfziger Jahren sprechen sie im Brief von einem neuen McCarthyismus. Sie beziehen sich dabei insbesondere auf die Abgeordnete Elise Stefanik. Die Republikanerin hatte sich als Mitglied des Erziehungsausschusses profiliert, indem sie den Präsidentinnen von Harvard und Penn bei einer Kongressanhörung vorwarf, den Antisemitismus zu verharmlosen. Das führte letztlich zu deren Entlassung. Ebenso ging sie am 17. April in einer Anhörung mit der Columbia-Präsidentin Nemat Shafik vor; sie fordert auch ihren Rücktritt.
Die dubiose Rolle von Stefanik, die im Laufe ihrer Karriere immer wieder mit «weissem Nationalismus» geflirtet habe, entlarve diese Anhörungen als verlogenes politisches Theater, heisst es in dem offenen Brief. In Wirklichkeit gehe es republikanischen Hardlinern wie Stefanik gar nicht um das Wohlergehen der jüdischen Studierenden; vielmehr instrumentalisierten sie den Antisemitismus für ihre eigene politische Agenda und heizten so die Polarisierung und den Antisemitismus auf dem Campus erst richtig an.
Judenhass von rechts
Wohlgemerkt leugnen die Unterzeichner nicht, dass Antisemitismus wie vielerorts auch auf dem Columbia-Campus existiere. Aber, heisst es in dem Brief weiter: «Die Kritik an Israels Krieg in Gaza automatisch als antisemitisch zu charakterisieren, heisst, die Bedeutung des Wortes zu pervertieren.» Propalästinensische Parolen als antijüdische Hassrede zu etikettieren, bedeute eine gefährliche und falsche Vermischung von Zionismus mit Judentum, also einer politischen Ideologie mit Identität. Damit würden auch die Erfahrungen und Reflexionen von nichtzionistischen Juden auf dem Campus ausgeblendet.
Eine der Unterzeichnerinnen ist Nina Berman, Professorin für Journalismus an der Columbia University. Im Gespräch ist es ihr wichtig festzuhalten, dass der Antisemitismus in den USA vor allem aus der rechten und nicht aus der linken Ecke komme. Der Auslöser für die gegenwärtige Welle war für sie Donald Trumps Flirt mit der Alt-Right-Bewegung. Sie erinnert an den Aufmarsch von Rechtsextremen auf dem Campus der University of Virginia in Charlottesville im Jahr 2017 und den Slogan: «Juden werden uns nicht ersetzen!» Inzwischen komme es dauernd zu solchen Kundgebungen, zu denen der Kongress schweige. Stattdessen werde die Kritik an Israel als antisemitisch gebrandmarkt und mit Polizeieinsätzen zum Schweigen gebracht.
Das «Antisemitismus»-Argument werde von den Konservativen benützt, um die Universitäten zu gängeln, sagt Berman. «Gestern war es die ‹critical race theory›, heute ist es Antisemitismus, morgen wird es der Marxismus oder der Feminismus sein», sagt sie. Von der Einschüchterung von palästinensischen und muslimischen Studierenden, die oft mit Islamisten oder Terroristen gleichgesetzt würden, spreche hingegen niemand. Dieselbe Einseitigkeit herrsche gegenüber dem Nahen Osten: Man spreche von den Opfern der Hamas-Attacke, aber kaum von den getöteten Zivilisten in Gaza. Dabei seien es die USA und die Steuergelder der Amerikaner, die Israel und den Krieg finanzierten.
«Wir haben uns nie unwohl gefühlt»
Eine weitere Unterzeichnerin des Briefes ist Marianne Hirsch, emeritierte Professorin für englische Literatur. «Ich war mehrmals im Protestcamp, zusammen mit anderen Juden», sagt sie. «Wir haben uns nie unwohl gefühlt. Es gab sogar einen Seder, also das gemeinsame Mahl zum Auftakt von Pessach, zusammen mit nichtjüdischen Studierenden.» Für sie war das Camp ein Modell für Koexistenz. Mit dem Polizeieinsatz habe man den Studierenden ein schlechtes Beispiel gegeben. Offene Debatten und friedliche Konfliktlösung sähen anders aus. «Wie soll der Nahostkonflikt gelöst werden, wenn wir nicht einmal hier im Kleinen fähig sind, die Auseinandersetzung ohne Gewalt zu führen?», sagt sie.
Hirsch leugnet nicht, dass es auch Antisemitismus gebe unter den Protestierenden. Gelegentlich fühle sie sich unbehaglich, aber das heisse noch nicht, dass sie bedroht sei. Man verwässere den Antisemitismus-Begriff, wenn man Israel-Kritik mit Antisemitismus identifiziere. Mit dem Vorwurf einer «woken Indoktrinierung» kann sie nichts anfangen. Zumindest in ihrem Gebiet, der Literatur, sei der Lehrplan immer noch konservativ ausgerichtet. Man komme nicht um die Griechen, die Bibel und die Klassiker herum. Frauen und nichtwestliche Autoren seien immer noch untervertreten. Von einer linksprogressiven Gehirnwäsche könne keine Rede sein, das sei rechte Polemik.
«Verharmlosung der Bedrohung»
Am 15. April publizierte eine andere Gruppe von etwa 34 jüdischen und israelischen Fakultätsmitgliedern eine Entgegnung auf den offenen Brief. Die Unterzeichner zeigten sich empört über den Vorwurf, sie «instrumentalisierten» den Antisemitismus. Das sei selbst eine typisch antisemitische Wendung und ein Mittel, jüdische Stimmen sowie eine wichtige Debatte zum Verstummen zu bringen. Wenn man schon von Antisemitismus als Waffe rede, schreiben sie, dann müsse man das Hamas-Massaker so bezeichnen oder den Holocaust, aber nicht die gegenwärtigen Sorgen und Warnungen. Sie verweisen auch auf den Widerspruch, dass jede Minderheit auf dem Campus das Recht habe, auf der Basis des eigenen Empfindens als verletzt zu gelten – ausser den Juden.
Sie werfen den Verfassern vor, die Bedrohung gegenüber jüdischen Studierenden zu verharmlosen. Sie erwähnen die Hakenkreuze an Mauern, die Weigerung von Studierenden, mit Juden zusammenzuarbeiten, und Slogans wie «Wir wollen nicht zwei Staaten, wir wollen alles» oder «Es gibt kein Entkommen, Tod dem Zionistenstaat».
Einer der Unterzeichner ist Assaf Zeevi, Professor an der Columbia Business School. Der 56-Jährige ist Israeli und lehrt seit mehr als zwanzig Jahren an der Columbia. Als einem, der in der israelischen Armee gedient hat, geht ihm ein Slogan besonders nahe, der alle israelischen Studenten als «gefährlich» bezeichnete und vom Campus verbannen wollte, weil sie Militärdienst leisteten. Er findet, dass man in typisch postmodernem Jargon nur noch «Narrative» sehe und darob handfeste Einschüchterungen aus den Augen verliere.
«Israel ist der ideale Feind»
Er geht mit den Verfassern des ersten offenen Briefes einig, dass bei Politikern wie Elise Stefanik viel Heuchelei und politisches Kalkül im Spiel sei, aber aus seiner Sicht hätte man diese Einmischung verhindern können, wenn man den Antisemitismus von Anfang an ernster genommen hätte. Allerdings müsse man auch die Relationen im Auge behalten: Es gebe etwa 30 000 Studierende, von denen nur etwa 200 im Camp mitgemacht hätten. Trotzdem glaubt er, dass diese radikale Minderheitsmeinung zum universitären Mainstream werden könnte. Das habe mit dem sozial- und geisteswissenschaftlichen Lehrplan zu tun. «Er ist marxistisch und postkolonial ausgerichtet», sagt er. «Alles wird in den Kategorien Unterdrücker – Unterdrückte abgehandelt. Alles muss ‹kritisch› sein, und viele Studenten wollen Aktivisten werden.»
Für ihn ist der Antisemitismus das Nebenprodukt eines allgemeineren Malaises. «Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober war ein Trigger. Israel ist für diese Leute der ideale Feind, auf den sie ihre Ideologien projizieren können. Um die realen Palästinenser geht es ihnen weniger. Wichtig ist ihnen das antiwestliche Element, die Kritik an den USA.» Ein Beispiel für die Weltfremdheit der Proteste ist für ihn auch die Forderung nach «divestment». «Erstens geht nur eine kleine, irrelevante Summe der universitären Gelder nach Israel. Zweitens hat die Universität gar keinen Zugriff. Das ist Sache von professionellen Fondsmanagern. Und wie soll man sich aus globalen Firmen wie Google, Microsoft oder Amazon zurückziehen, die natürlich auch mit Israel Geschäftsbeziehungen unterhalten? Das ist gar nicht möglich.»
Wichtiger seien die Bundesgelder, die die Universität erhalte, und auch die Stipendien. Wegen dieser staatlichen Finanzierung müsse die Universität auf Basis der Gesetze ein Umfeld ohne Diskriminierung und Feindseligkeit garantieren. Da gehe es allerdings um Definitionsfragen. Wird mit Slogans wie «From the river to the sea» oder dem Schlagwort «Antizionismus» Israels Existenzrecht geleugnet? Und ist das ein genereller Angriff auf die Juden, von denen sich doch viele mit Israel identifizieren?
Wie viele Israeli auf dem Campus stellt er fest, dass er in Israel als Linker gelte, weil er Netanyahu kritisch gegenüberstehe, hier hingegen, wegen seines Einstehens für Israel, als Konservativer. Er weist allerdings darauf hin, dass in Bezug auf Israel oft mit verschiedenen Ellen gemessen werde: Trotz den kolonialen Greueln in Kongo sei Belgiens Existenzrecht nie infrage gestellt worden, ganz zu schweigen von den USA, deren Genozid an den Indianern sowie die späteren Kriege – verglichen mit Israel – vermutlich ein Vielfaches an Todesopfern forderten. Niemand hat aber deshalb jemals gefordert, dass alle amerikanischen Immigranten «heimgehen» sollten.
Sie grunzen, wenn er vorbeigeht
Elad Arad ist ein 33-jähriger Chemieingenieur und Forschungsstipendiat aus Israel. «Ich frage mich, ob ich halluziniere, wenn ich höre, der Antisemitismus auf dem Campus werde lediglich von Politikern und Journalisten aufgeblasen, existiere in Wirklichkeit jedoch kaum», sagt er. Seit dem 7. Oktober hängt er immer wieder Plakate mit den Fotos der entführten Israeli in Columbia auf. «Sie bleiben im Schnitt zwei bis drei Stunden hängen, dann werden sie heruntergerissen oder verunstaltet», sagt er. Er passe auf, dass er nicht als Jude oder Israeli erkannt werde. Manche machten Grunzgeräusche, wenn er vorbeigehe, um zu signalisieren, dass sie ihn als Schwein betrachteten.
Wenn er proisraelische Statements poste, werde er als Rassist bezeichnet. Er empfindet, dass Israeli entmenschlicht werden; das Hamas-Massaker hingegen entschuldige man. Was ihn frappiert, ist auch, wie propalästinensische Slogans vermischt werden mit einer allgemeinen Kritik am Westen und am Kolonialismus, mit einer Bewunderung für die Huthi-Rebellen und die Kassam-Brigaden und dann im selben Atemzug auch noch der Tod Bidens gefordert werde. Manchmal habe er das Gefühl, sich nicht in Manhattan, sondern in Afghanistan zu befinden. Es sei wohl auch kein Zufall, dass die iranische Regierung die Protestierenden beglückwünscht habe. Die Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus ergibt für ihn keinen Sinn. Er habe nur einen israelischen Pass und kein anderes Land, wo er ohne weiteres hingehen könnte.
Es sei schwierig, mit den Demonstrierenden zu diskutieren, sagt Arad, weil jede Frage auf ein moralisches Entweder-oder reduziert werde, wobei der Underdog immer recht habe und die Juden immer auf der Seite der Aggressoren angesiedelt würden. «Seit dem Einsatz der Polizei werden auch Ursache und Wirkung verdreht», sagt er. Man tue so, als ob die Eskalation eine Folge der Räumung gewesen sei, während in Wirklichkeit die zunehmende Gewalt der Protestierenden den Ausschlag für den Einsatz gegeben habe.
Wie angespannt die Situation ist, merkt man auch daran, dass viele Studierende und Professoren nicht namentlich genannt werden wollen, ihre Zitate im letzten Moment zurückziehen oder zumindest abschwächen. Was nach Gesprächen mit den verschiedenen Seiten bleibt, ist die Irritation darüber, dass selbst jüdische und israelische Studierende und Professoren die Campus-Geschehnisse vollkommen unterschiedlich beschreiben, je nach politischer Ausrichtung. Man könnte meinen, sie sprächen von zwei verschiedenen Universitäten, ja von verschiedenen Welten.







