In seinem Buch «Menschenkunde» lässt sich Martin Meyer von den Comics des belgischen Zeichners Hergé zu vergnüglichen alltagsphilosophischen Betrachtungen anregen.
In Hergés Comic «König Ottokars Zepter» sieht man die Silhouetten von Tim und dessen Hund Struppi vor nachtblauem Himmel. Die unzertrennlichen Abenteurer kauern unter einem Felsen und blicken in die Dunkelheit. Zu schwach ist das Licht des Vollmonds, um dem Dieb folgen zu können, der sich mit dem gestohlenen Zepter über die nahe Grenze in Sicherheit bringen will. «Wir warten, bis es wieder hell ist», sagt Tim zu Struppi.
Martin Meyer überschreibt seine Anmerkungen zu dieser Szene in Anlehnung an Goethes angeblich letzte Worte: «Mehr Licht, bitte». Das könnte auch als Motto zu Meyers neuem Buch dienen, in dem er sich von 33 Abbildungen aus der Comic-Serie «Tim und Struppi» des belgischen Zeichners Hergé zu kurzen Aperçus anregen lässt. In «Menschenkunde» beschreibt und analysiert der ehemalige Feuilletonchef der NZZ die Bilder nicht bloss, sie inspirieren ihn zu launigen Betrachtungen über gegenwärtige Befindlichkeiten.
Am Widerstand wachsen
Angesichts der Rückschläge, welche die Aufklärung in unseren Tagen erfährt, fragt Meyer rhetorisch: «Täuschen wir uns, oder ist es nicht so, dass auch in aufgeklärten Kulturen eine neue Dunkelheit um sich greift? Eine Rückkehr zu Sätzen, die kritischer Begründung kaum standhalten, zu Glaubenslehren, die ohne Wenn und Aber daherkommen, zu Doktrinen des Verhaltens, die keinerlei Widerspruch dulden, zu Überzeugungen und Ideologien, die immun sein wollen gegenüber Ungewissheiten und Zweifel?»
Dabei bestehe das Leben doch darin, Bedenken und Einwände zuzulassen, und nicht darin, sie zu umgehen. Am Widerstand, so der gemeinsame Nenner der in «Menschenkunde» versammelten Kurzessays, wachsen wir – wenn wir ihn überwinden, aber auch, wenn wir scheitern. In «Schritte auf dem Mond» beispielsweise zeige Hergé, dass auch technische Erfindungen, nicht nur jene des zerstreuten Professors Bienlein, letztlich der Beseitigung von stets neuen Hindernissen dienten.
Worauf sich die Scheinwerfer des Erkenntnisinteresses heute richten, beschreibt Martin Meyer sarkastisch an den veränderten Ernährungsgewohnheiten in unseren Breitengraden. «Ohne Beipackzettel geht nichts. Ablaufdaten sind wie Zeitzünder, die Furcht und Zittern verbreiten. Auch Kalorientabellen und Herkunftsländer mischen hier mit drohender Geste mit. Dass wir am Ende überhaupt noch in den Apfel beissen, ist ein Wunder.» Struppi ist da weniger wählerisch und macht sich über die Knochen eines in der Sahara verdursteten Kamels her, wie in dem Band «Die Krabbe mit den goldenen Scheren» zu sehen ist.
Martin Meyer weiss natürlich nur zu gut, dass das Misstrauen «allen Fortschritts Anfang» ist. Bestehendes kommt auf der Suche nach besseren Lösungen auf den Prüfstand. Dazu bedarf es stets neuer Informationen und deren intellektueller Verarbeitung. So zeigt Hergé Kapitän Haddock, wie er sich in die Zeitungslektüre vertieft. Auch wenn das Morgenblatt schlechte Nachrichten verbreitet, so sind sie doch überschaubar.
Dagegen stellt der ironische Skeptiker heutzutage eine digitale Überinformiertheit «schon unter der Dusche» fest, die wiederum einhergeht mit einer weit verbreiteten, hartnäckigen Ignoranz. «Heute werden wir zerstreut. Der Anteil der Passivität ist ins Unermessliche gewachsen.» Martin Meyer sagt es nicht explizit, aber deutet es an: Es bahnt sich eine neue Dialektik der Aufklärung an. Das Übermass an Informationen lähmt das Denken und hemmt das Handeln.
Treue zur eigenen Identität
In allen Lebenslagen hält Struppi zu Tim. In «Die schwarze Insel» krallt er sich auf der hinteren Stossstange eines davonfahrenden Daimlers fest, in dem sein Freund entführt wird. Treu kann man anderen, aber auch sich selbst gegenüber sein. Matin Meyer fürchtet kühne Gedankensprünge nicht: «Bin ich dem Geschlecht, mit welchem ich das Licht der Welt erblickte, untreu geworden, wenn ich es ins andere umwandeln lasse?» Oder verhält es sich genau umgekehrt? Meyer legt einen überraschenden Befund nahe. Der Begriff «Treue», der im Mottenschrank der Tradition entsorgt schien, erlebt in der Identitätsdebatte ein ungeahntes, beinahe unbemerktes Revival.
«Menschenkunde» ist ein riskantes und zugleich amüsantes intellektuelles Unterfangen. Leicht hätte es scheitern können. Zweierlei verhindert dies: Martin Meyer beschreibt und analysiert einerseits die Comics präzise und detailgenau, ohne das Bild für seine Interpretation zu instrumentalisieren. Anderseits bewegen sich die von Hergé angeregten Ausführungen so weit weg von den Zeichnungen, dass sie ein Eigenleben entwickeln. Auf diese Weise halten die Texte, die Meyer zu den Abbildungen verfasst, eine wohldosierte Balance zwischen Nähe und Distanz. Auch das gehört zur Menschenkunde.
Martin Meyer: Menschenkunde. 33 Stationen aus dem täglichen Leben. Inspiriert von Tim und Struppi. Verlag Kein & Aber, Zürich 2025. 150 S., Fr. 33.90 (am 4. Juni stellt der Autor das Buch im «Sphères» an der Hardturmstrasse 66 in Zürich vor, 20 Uhr).