Niedrige Zinsen und der Trend zu passiven Anlagen haben einen massiven Kapitalstrom der Nachkriegsgeneration in Aktien begünstigt. Angesichts ansprechender Renditen von Anleihen könnte dieser Kapitalfluss nun drehen – mit gravierenden Konsequenzen für die Börsen.
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Einer der bekanntesten Leitsprüche in der Welt des Investierens lautet: «Ihr Alter ist der Prozentsatz an Anleihen, den Sie in Ihrem Portfolio haben sollten.» Oder anders gesagt: Je älter man wird, desto geringer sollte der Anteil an Aktien sein.
Diese Aussage berührt einen wichtigen Punkt, wenn es um das Thema passives Anlegen anhand von Indexfonds und ähnlichen Instrumenten geht. Sie richtet den Fokus auf den demografischen Wandel in westlichen Ländern wie den Vereinigten Staaten.
Die ältesten Vertreter der Babyboomer-Generation werden bald achtzig. Dank der modernen Medizin, neuen Technologien und besseren Erkenntnissen zu gesunder Ernährung werden viele von ihnen älter als neunzig Jahre werden. In finanzieller Hinsicht hat diese Generation einiges erlebt: die Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Kollaps von Lehman Brothers, dann die Lockdown-Massnahmen während der Pandemie und zuletzt den Crash im Technologiesektor im Jahr 2022.
Derzeit breitet sich Inflation aus, in der Ukraine herrscht Krieg, China erhöht den Druck auf Taiwan, und die Europäische Union sieht sich mit der Gefahr von Engpässen bei der Energieversorgung konfrontiert. Das Weltgeschehen ist unberechenbar, und Investitionen in Aktien haben sich wiederholt als gefährliche Wette erwiesen – zumindest auf kurze Sicht. Wenn es zu einem weiteren grossen Rückschlag an den Börsen kommt, werden ihn viele «Boomer» dieses Mal nicht verkraften können.
Die grosse Umschichtung beginnt
In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten floss jedes Jahr eine riesige Menge an Geld in Aktien, wobei die Babyboomer in ein Alter kamen, in dem man üblicherweise das höchste Einkommen verdient. Insgesamt verfügt diese Generation heute über ein Vermögen von rund 78 Bio. $, wogegen die Millennials, sprich die zwischen 1981 und 1996 Geborenen, bloss 7 Bio. $ besitzen.
Doch jetzt ziehen sich die Babyboomer aus Aktien zurück und legen ihr Kapital in Anleihenfonds an. Sie haben die Launen der Börse satt, und bevorzugen ein regelmässiges Einkommen mit weniger Risiko – genau wie es der einflussreiche US-Investor und Marktkommentator Martin Zweig einst empfahl, und wie auch wir es tun würden. Die Geldflut, die über passive Anlageinstrumente in Aktien fliesst, wird versiegen oder zumindest drastisch abnehmen.
Wir gehen davon aus, dass im nächsten Jahrzehnt 10 Bio. $ von Aktien in Anleihen und in Sachwerte wie Rohstoffe umgeschichtet werden. In zehn Jahren werden die ältesten Babyboomer neunzig, und selbst die jüngsten von ihnen werden dann im Ruhestand sein. Wenn die Notenbanken die Börsen nicht mehr ständig stützen können, weil sie stattdessen die Inflation bekämpfen müssen, wird der Druck noch mehr zunehmen, Vermögen in festverzinsliche Anlagen zu verlagern.
Vernachlässigte Risiken
Was mich nachts wach hält, ist die Tatsache, dass sich die meisten Finanzmedien kaum mit den Renditen befassen, die für Aktien in einer Welt ohne niedrige Zinsen und andere geldpolitische Stimulusmassnahmen wie Quantitative Easing zu erwarten sind.
Die Aktienmärkte, mit denen wir es heute zu tun haben, würde Zweig wohl kaum wiedererkennen. Im Zug der grossen Verlagerung zu passiven Investmentstrategien bewirtschaften immer mehr unbedarfte Investoren ihr eigenes Portfolio, und es gibt keine Obergrenze für das Volumen an Kapital, das in passive Anlagen wie ETF fliessen kann.
Doch was wird passieren, wenn ein weiterer grosser Schock die Märkte trifft? Wenn – sagen wir – 25 Bio. $ in einer Panikreaktion von den Börsen abgezogen werden, ohne dass professionelle Portfoliomanager uns durch das Chaos navigieren? Eine Kaskade unkontrollierter Verkäufe in präzedenzlosem Ausmass wäre in einem solchen Szenario nicht undenkbar.
Dies bringt uns zur wichtigsten Statistik, die Investoren verstehen sollten. Sie betrifft das Vermögen der US-Haushalte und die Verteilung des Kapitals der Anleger. Nach Angaben von Goldman Sachs hat der Anteil von Aktien am Finanzvermögen der US-Haushalte in diesem Jahrzehnt auf fast 40% zugenommen – ein erheblicher Anstieg im Vergleich zu 28% in den 2010er-Jahren, 18% in den 2000er-Jahren, 33% in den 1990er-Jahren, 17% in den 1980er- Jahren und 11% in den von Inflation geprägten 1970er-Jahren. Fazit: Das Gruppendenken hat überhandgenommen.
Ein Hauptgrund dafür hat mit dem Fed zu tun. Die US-Notenbank hat den Märkten de facto das Versprechen abgegeben, dass sie jedes Mal zu Hilfe eilen wird, wenn es zu grösseren Verwerfungen kommt. Ihr Verhalten in den letzten dreissig Jahren spricht für sich: Vom Kollaps des Hedgefonds LTCM über den Dotcom-Crash bis hin zum Zusammenbruch von Lehman und der Pandemie kam das Fed stets zur Rettung.
Inflation begrenzt den Spielraum des Fed
Nun gibt es aber ein Problem. Geldpolitische Stimulusmassnahmen funktionieren nur, wenn die Inflation niedrig ist und die Notenbanken die Schleusen öffnen können, ohne die restliche Wirtschaft umgehend zu schädigen. Bei Inflation oder der Gefahr von Inflation kann das Fed daher nicht im Traum daran denken, einen Crash an den Börsen zu verhindern. Extreme geldpolitische Interventionen wie in den vergangenen Jahrzehnten würden die Teuerung beträchtlich anheizen, was für die Bevölkerung eine unerträgliche Belastung bedeutete.
In den USA ist die Wirtschaft auf Krediten aufgebaut. Die Gesamtverschuldung des Landes beläuft sich derzeit auf mehr als 100 Bio. $ oder gut 350% des Bruttoinlandprodukts. Der grösste Teil davon sind flexibel verzinsliche Schulden. Das bedeutet, dass die Kosten dieser Schulden deutlich steigen werden, wenn die Inflationsrate nach oben tendiert. Die Konsequenzen einer solchen Entwicklung wären verheerend.
In früheren Krisen bewegte sich die Inflation im Bereich von 0 bis 2%. Das Risiko, dass eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommen würde, war gering. Doch wenn sich die Inflation als hartnäckig erweisen sollte, ist diese Gefahr beträchtlich, und das Fed ist sich dessen bewusst.
In einer instabilen, multipolaren Welt, in der die Babyboomer auf die Achtzig zugehen und Staatsanleihen wesentlich ansprechendere Rendite zahlen als im vergangenen Jahrzehnt, wird sich die scheinbar endlose Nachfrage nach Aktien bald in ein endloses Angebot verkehren. Der demografische Wandel wird wahrscheinlich dazu führen, dass ein schäumender Strom an Kapital fortan in die Gegenrichtung fliesst.
Lawrence G. McDonald