In Basel messen sich die weltbesten Reiter am Weltcup-Final. Die Deutsche Isabell Werth sagt im Interview, wie sich der Blick auf das Tierwohl und den Leistungsgedanken über die Jahre verändert hat.
NZZ am Sonntag: Isabell Werth, Sie gehören seit 35 Jahren zur Weltspitze im Dressurreiten und haben ein Buch mit dem Titel «Was für ein Mensch ist mein Pferd?» geschrieben. Was haben Pferde Menschliches an sich?
Isabell Werth: Jedes Tier, mit dem man so eng zusammenlebt und zusammenarbeitet, wird vermenschlicht. Für uns ist das Pferd wie ein Lebensabschnittsgefährte, ein Partner, mit dem man auf Gedeih und Verderb verbunden ist. Der beste Reiter taugt nichts ohne das richtige Pferd. Und es ist wichtig, dass man die Beziehung zum Pferd immer weiterentwickelt. Das ist keine starre Zusammenarbeit, sondern eine dynamische. Es gibt Vorwärts- und Rückwärtsentwicklung, Verletzungen, Rekonvaleszenz, Neuaufbau. Oder auf einmal ist ein Knoten drin, den man lösen muss. Das ist das Spannende.
Der Dressursport und der Pferdesport allgemein stehen zunehmend in der Kritik – es geht um den Umgang mit dem Pferd.
Wir sind schon mit einigen Fragen und Bildern konfrontiert, die nicht das widerspiegeln, was im Sport, was in der Prüfung und in unseren Trainings stattfindet. Wenn man sieht, wie Spitzenpferde heute gehalten werden, wenn man die allgemeine, medizinische und physiotherapeutische Betreuung sieht – das gab es vor zwanzig Jahren in dieser professionellen Art und Weise nicht. Im Vergleich zu meiner Zeit Anfang der 90-er-Jahre bei meinem Mentor Dr. Schulten-Baumer hat sich der gesamte Pferdesport und die Pferdezucht enorm weiterentwickelt.
Das ist ja eine positive Entwicklung.
Sehr positiv. Ich will damit sagen: Der Umgang mit dem Pferd hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nicht nur professionalisiert, sondern noch mehr vermenschlicht, weil die Gesellschaft einen anderen Blick auf den Reitsport und das Pferd wirft. Und insgesamt eine andere Wertediskussion stattgefunden hat und ein anderes, eingeschränkteres Leistungsdenken herrscht. Das widerspiegelt sich natürlich auch beim Pferd. Und wir müssen uns der Diskussion stellen: Dürfen wir von den Pferden Leistung fordern?
Dürfen Sie?
Ja, dürfen wir, davon sind wir fest überzeugt. Und wir sind auch fest davon überzeugt, dass die Pferde es lieben, zu performen. Wenn ich gerade vor einer Pirouette fotografiert werde, habe ich einen Gesichtsausdruck voller Konzentration und nicht wie in einem Beauty-Foto. Und das ist auch beim Pferd so. Wenn bei fünfzig Bildern pro Sekunde bewusst das Bild genommen wird, wo ich eine Parade gebe, eine anlehnende Hand habe oder das Pferd das Maul aufsperrt, dann ist das nicht die Wiedergabe des Gesamtbildes. Aber das ist leider die Situation, mit der wir teilweise konfrontiert werden. Vielleicht können irgendwann das bessere Verstehen, das Wissen darum, wie unsere Pferde trainiert, gehalten werden und wie sie ticken, uns auch weiterhelfen, um andere Menschen besser verstehen zu lassen. Auch die Wissenschaft wird künftig vermehrt Untersuchungen machen, die teilweise noch in den Anfängen sind.
An einem Turnier wurden für eine Studie zum Beispiel die Hirnströme Ihres Pferdes gemessen. Was ist dabei herausgekommen?
Das haben wir sowohl zu Hause wie auch am Turnier gemacht, die Messungen sollen noch ausgeweitet werden. Es war interessant. Ich habe extra ein Pferd dafür genommen, das sich gerne mal mehr stresst. Wir haben zwei, drei Tage gemessen, und es hatte am Turnier witzigerweise weniger Stress als an einem Tag, an dem es beim Reiten etwas nerviger war. Im Turnier durften wir die Daten leider nicht während der Prüfung nehmen, weil es als wettbewerbsverzerrend gelten würde, wenn da etwas anderes als die erlaubte Ausrüstung auf dem Kopf sitzt. Aber es war auch für mich spannend zu sehen, dass das Pferd völlig entspannt war kurz vor der Prüfung.
Ikone des Dressursports
Isabell Werth
Die 55-jährige Deutsche hat zwischen 1992 und 2024 im Einzel und Team 14 Olympiamedaillen geholt, darunter achtmal Gold. Das macht sie zur erfolgreichsten deutschen Sommer-Olympionikin der Geschichte. Sie lebt mit ihrer Familie mit eigenem Ausbildungsstall in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen.
Sie sagen, Pferde wollen performen. Nun können diese aber nicht sagen, wenn etwas zu viel ist. Wie wissen Sie, dass das, was Sie mit dem Pferd arbeiten, im Rahmen ist?
Ein Mensch kann sagen, ich werde diesen Marathon nun zu Ende bringen, auch wenn es mich anstrengt und ich dann den inneren Schweinehund bekämpfe. Und das ist eben der schmale Grat beim Pferd, dass wir den nicht überschreiten sollten, wenn es an die Substanz geht. Wo ein Pferd zu viel geben muss und eine Verletzungsgefahr entsteht. Oder eine psychische Überlastung. Da leben wir einerseits von unserer Erfahrung, je mehr ich als Reiterin erlebt habe, desto besser kann ich das einschätzen. Das gilt auch für meinen Trainer Götz. Es ist ein enges Zusammenspiel von uns und meiner Pflegerin Steffi, die seit über zehn Jahren mit mir von Turnier zu Turnier reist und genau weiss, in welcher Verfassung sich unsere Pferde befinden. Sie erkennt die Stimmungslage im Stall. An unserem gesamten Team liegt es, die Feinabstimmung zu finden. Und dass im Zweifel einer sagt: «So, für heute ist es genug», auch wenn ich vielleicht finde, ich muss es noch besser hinkriegen. Das ist ganz wichtig. Zu wissen, wann aufhören.
Und das ist anders als früher?
Vor zwanzig und mehr Jahren war auch mein Augenmerk, die Reflexion, das Wissen darum ein anderes. Wir alle sind mit unseren Aufgaben, Erfahrungen gewachsen. Manchmal dachte ich : «Heute muss ich das schaffen.» Da war der Ehrgeiz auch einmal zu gross. Inzwischen weiss man, dass es viel besser ist, morgen etwas neu anzufangen, statt es heute erzwingen zu wollen. Das sind aber auch emotionale Momente, weil man manchmal in einen Flow kommt, wo man sich nicht mehr so unter Kontrolle hat. Deswegen ist das Zusammenspiel mit dem Trainer so wichtig. Und die Akzeptanz des Umfeldes: dass sich Menschen trauen zu sagen: «Es ist genug.» Die Stewards helfen uns Fehler zu vermeiden, aber auch wir Reiter untereinander sind viel offener. Wir haben eine viel sensiblere Verantwortung unserem Pferd gegenüber als beispielsweise der Tennisspieler gegenüber seinem Schläger.
Wie schnell merken Sie bei einem Pferd, ob es die Leistungsbereitschaft und Wettkampflust mitbringt?
Die Auswahl ist heute eine ganz andere als vor zwanzig Jahren, auch bei mir. Damals war es noch üblich und normal, dass man ein Pferd ruhig mehr auffordern durfte, um entsprechende Leistung zu bringen. Die Pferde haben sich durch die Zucht extrem weiter verbessert. Heute hat man in der Regel Pferde, die von Haus aus unheimlich viel Bewegungsfreude, Motivation, Ehrgeiz und in der Breite viel mehr Talent mit sich bringen, als es vor zwanzig Jahren der Fall war. Natürlich gab es vor dreissig Jahren auch Ausnahmepferde wie einen Gigolo. Aber von acht Pferden waren eines bis zwei Ausnahmepferde.
Sie reiten pro Tag acht Pferde – wie viel Arbeit fällt auf Ihre Spitzenpferde und wie viel auf die jungen auszubildenden?
Bei den Grand-Prix-Pferden, den Stars, geht es in erster Linie darum, mit Gymnastizierung den Körper und die Elastizität zu erhalten. Mit Wendy (Anm. d. Red.: Mit ihr hat Werth an den Olympischen Spielen 2024 Team-Gold und Einzel-Silber gewonnen), mit der ich erst rund zehn Turniere bestritten habe, geht es immer noch um weiteres Kennenlernen und Zusammenwachsen. Am Ende gibt es bei jedem Pferd bis sechzehn, siebzehn Jahre Dinge, die ich noch weiterentwickeln oder optimieren möchte.
Sie erzählen gerne, wie Sie der erste Anblick Ihres ehemaligen Spitzenpferdes Bella elektrisierte und Sie sofort wussten: Das ist mein Pferd. Ist dieses Gespür auch der Grund für Ihre lange Karriere?
Ich glaube, es ist ein Grund. Der viel wichtigere ist aber, dass ich die Pferde ausbilden kann. Und es auch schaffe, mich im Lauf der Zeit durch Höhen und Tiefen zu arbeiten, und nicht aufgebe, Ideen zu entwickeln, wie ich etwas weiterentwickeln kann. Satchmo ist ein Beispiel dafür. Ein geniales Pferd, aber anderthalb Jahre lang standen wir in den entscheidenden Momenten in der falschen Richtung, und er hatte Panikattacken – und ich wusste nicht, warum. Ich habe es in alle Richtungen zu lösen versucht, mit Druck, mit allem Lob dieser Welt. Am Ende fand man heraus, dass er ein Problem mit den Augen hatte und Dinge sah, wo keine waren. Eine Operation löste das Problem.
Von welchem Ihrer Pferde haben Sie am meisten gelernt?
Gigolo hat mich die Unbekümmertheit und die Leichtigkeit des Seins gelehrt. Satchmo dann die Demut. Er war vielleicht auch der beste Lehrmeister dahingehend, Dinge feinfühlig vorauszusehen. Es gab Zeiten, in denen ich mir genau überlegte, ob ich linksrum oder rechtsrum rausreite, weil er vielleicht irgendwo etwas Falsches mitnehmen könnte und sich das in der Prüfung widerspiegelt. Davon haben die nachfolgenden Pferde profitiert. Jedes Pferd bringt einem etwas anderes bei, das man beim nächsten wieder gut gebrauchen kann.
Wie oft haben Sie sich schon in einem Pferd getäuscht?
Die Quote ist sehr niedrig. Ich hatte zum Beispiel einmal ein Pferd, das ich grossartig fand. Aber er war leider kein Pferd, das Mut und das Selbstvertrauen hatte, sondern eher ängstlich und schüchtern war. Es gab dafür keinen wirklichen Grund, und da würde man sich manchmal wünschen, dass die Pferde mit einem sprechen könnten. Aber irgendwann haben wir dann gesagt: «Okay, er ist kein glückliches Grand-Prix-Pferd.»
Können Pferde nach einem Grossanlass in ein Loch fallen? Dass sie spüren, dass der wichtigste Event vorbei ist?
Für Wendy hatte ich nach Paris eine viel längere Pause geplant. Aber sie war dann zu Hause so geladen und gelangweilt, weil sie nicht gefordert wurde, dass es Zeit wird, dass es wieder losgeht. Sie war viel draussen auf der Wiese und auf dem Paddock, aber sie ist einfach ein Leistungspferd. Es gibt Menschen und Pferde, die wollen sich messen und sich zeigen. Das ist der Unterschied des Weltpferdes zum braven Arbeitnehmer, der zufrieden ist mit dem, was er macht – aber auch nicht mehr macht oder machen möchte, als er muss. Das gibt es auch bei Menschen.
Womit wir wieder bei der Leistung wären.
Unsere tägliche Zielsetzung ist, das Leben unserer Pferde und letztlich auch ihre Leistungsfähigkeit optimal zu gestalten, zu entwickeln und zu optimieren. Alles andere wäre kontraproduktiv.
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