Liechtenstein hat vor dreissig Jahren einen anderen Integrationsweg als die Schweiz beschritten.
Wer nach wichtigen Daten der liechtensteinischen Wirtschaftsgeschichte sucht, stösst auf 1923 und 1995. Nach dem Ersten Weltkrieg verhandelte Liechtenstein mit der Schweiz über eine engere Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Währungsfragen. Das Ergebnis war der Zollvertrag von 1923, der bis heute gilt.
Liechtenstein schlug in der europäischen Integrationspolitik einen eigenen Weg ein, unabhängig von der Schweiz. 1995 trat das Fürstentum dem Europäischen Wirtschaftsraum bei, behielt jedoch die engen Wirtschaftsbeziehungen durch den Zollvertrag bei.
Obwohl der Integrationsweg damals zu heftigen Diskussionen in der Bevölkerung und in der Wirtschaft führte, fällt heute die Bilanz über den EWR-Beitritt überwiegend positiv aus. Das zeigt eine Meinungsumfrage in der Bevölkerung und in Wirtschaftskreisen. Bei etwa 80 Prozent der befragten Personen rufe der EWR ein sehr oder ziemlich positives Bild hervor, das von der Wirtschaft sogar noch überboten werde: Nicht weniger als 89 Prozent der Industriebetriebe und 92 Prozent der Banken hätten eine positive Meinung über die EWR-Teilnahme in den vergangenen dreissig Jahren. Ebenfalls hoch mit 75 Prozent fällt die Zustimmung der anderen Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche aus.
Sogar im Gewerbe, das sich einst mit Nachdruck gegen einen EWR-Beitritt ausgesprochen hat, geben heute 69 Prozent eine positive Bewertung ab. Nach Einschätzung der Regierung betrachtet damit eine Mehrheit der Wirtschaft den EWR als Erfolgsmodell und bewertet ihn damit «als die beste Grundlage für die zukünftige Ausrichtung der liechtensteinischen Europapolitik».
Die von Teilen der Wirtschaft angeführten Vorbehalte gegen die EWR-Teilnahme unabhängig von der Schweiz sind in der Zwischenzeit weitgehend entkräftet worden. Die Unternehmen schätzen laut Regierungsbericht vor allem den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Rechtssicherheit im EWR-Raum.
In der Bevölkerung wie in der Wirtschaft fand offensichtlich ein Meinungsumschwung statt. Nachdem der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, Mitte der 1980er Jahre zur Vertiefung der europäischen Integration aufgerufen und die Schaffung eines Binnenmarktes angeregt hatte, befasste sich auch Liechtenstein mit der Teilnahme an einem solchen europäischen Markt mit freiem Personen- und Warenverkehr. Die damalige Regierung brachte aber den Vorbehalt an, Liechtenstein dürfe den Weg nach Europa nicht im Alleingang beschreiten, sondern nur in enger Abstimmung mit der Schweiz.
Diese Position barg politischen Zündstoff, denn Fürst Hans-Adam II. vertrat eine andere Auffassung. Schon in seiner «Rucksack-Rede» im Jahr 1970 hatte der Fürst gesagt, Liechtenstein müsse in der Aussenpolitik auf eigenen Beinen stehen und dürfe nicht weiter im bequemen Rucksack der Schweiz verharren. Schon beim Uno-Beitritt setzte sich Hans-Adam II. für ein eigenständiges Auftreten in der internationalen Staatenwelt ein. Sein beharrlicher Einsatz wurde von Erfolg gekrönt, Liechtenstein wurde 1991 als 160. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen – noch vor der Schweiz.
Ein ähnliches Vorgehen schwebte dem Staatsoberhaupt auch beim EWR vor, was zu einer Konfrontation mit der Regierung führte. Die Regierung weigerte sich, den EWR-Abstimmungstermin vor der Schweiz festzulegen. Daraufhin drohte der Fürst, die Regierung zu entlassen, das Parlament aufzulösen und bis zur Wahl einer neuen Regierung selbst als «Regierungschef ad interim» zu regieren.
Die «Staatskrise», wie man die Ereignisse im Herbst 1992 nannte, endete mit einem Kompromiss: Der Fürst akzeptierte einen Abstimmungstermin nach der Schweiz, und die Regierung versprach, die Stimmberechtigten zur EWR-Zustimmung zu ermuntern. Am 13. Dezember 1992 geschah, was viele für unmöglich hielten: Liechtenstein stimmte für den EWR-Beitritt, obwohl die Schweiz diesen eine Woche zuvor abgelehnt hatte.
Nach diesem Grundsatzentscheid wurde die EWR-Abstimmung 1995 zur Formsache, da Liechtenstein mit der Schweiz eine Anpassung des Zollvertrags erreichte. Mit der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu zwei Wirtschaftsräumen, zum EWR unter Beibehaltung der Zoll- und Währungsunion mit der Schweiz, ist ein spezielles Modell entwickelt worden. Das Fürstentum durfte dank der Regelung der «parallelen Verkehrsfähigkeit» Waren entweder nach EWR-Standards oder nach schweizerischen Produktestandards in Verkehr bringen.
Die enge Anbindung an den Schweizer Währungsraum blieb bestehen. Im heikelsten Bereich des EWR, dem freien Personenverkehr, handelte Liechtenstein mit der EU eine Sonderregelung aus: Wegen der geringen Landesgrösse muss es jährlich nur 56 Bewilligungen für Erwerbstätige und 16 für Nichterwerbstätige erteilen. Seit dem 1. Januar 2005 behandelt Liechtenstein Schweizer Staatsangehörige bei Aufenthaltsbewilligungen gleich wie Bürger von EWR-Staaten.
Im jüngsten Bericht der Regierung über «30 Jahre Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum» wird betont, trotz dem Beitritt Liechtensteins zum EWR seien die engen Beziehungen zur Schweiz erhalten geblieben. Allerdings werde zunehmend deutlich, dass die unterschiedlichen Integrationswege aufgrund abweichender Regelungen vermehrt Herausforderungen mit sich brächten. Bislang konnten laut dem Bericht stets einvernehmliche Lösungen gefunden werden. Nachdem die Schweiz mit der EU ein Abkommen über die künftigen Beziehungen ausgehandelt hat, hofft Liechtenstein, auch in Zukunft gemeinsame Regelungen im beiderseitigen Interesse finden zu können.