Die Ausbildung ist ein Entscheid für das Leben. Auch wenn sich viele später neu orientieren, bleiben die meisten der ursprünglichen Branche treu.
Der Stress beginnt für viele Jugendliche und ihre Eltern schon im sechsten Schuljahr. Dann entscheiden der Notendurchschnitt und – in gewissen Kantonen wie Zürich – auch das Ergebnis einer Aufnahmeprüfung darüber, ob es als Nächstes ins Gymnasium oder in die Sekundarschule geht. Und in der Sekundarschule, in der die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler landet, wird die Berufswahl zum Thema, kaum hat das siebte Schuljahr begonnen.
Firmen machen Druck
Das erzeugt weiteren Druck, denn viele Lehrbetriebe wollen sich ihre Wunschkandidaten möglichst früh sichern. «Einige Lehrstellen werden mündlich bereits Ende des achten oder Anfang des neunten Schuljahrs vergeben», sagt der Bildungsforscher Markus Neuenschwander.
Der Professor für Pädagogische Psychologie, der an der Pädagogischen Hochschule FHNW und an der Universität Basel lehrt, rät Jugendlichen, sich frühzeitig, spätestens ab Anfang des achten Schuljahrs, mit der Berufswahl auseinanderzusetzen. Ein bewährtes Mittel dafür sind neben dem Unterricht in Berufskunde Schnupperlehren sowie Betriebsbesichtigungen.
Viele Unternehmen bieten solche Einführungen an. Schnupperlehren lassen sich von den Jugendlichen selbst, meist über die Homepage einer Firma, buchen. Betriebsbesichtigungen, die in der Regel klassenweise stattfinden, organisieren Unternehmen auf Anfrage von Lehrern.
Mit Kindern auf Augenhöhe diskutieren
Andreas Bischof, Leiter des Bereichs Berufsbildung beim Ostschweizer Industriekonzern Bühler, sieht neben den Jugendlichen und ihren Lehrern auch die Eltern in der Pflicht. «Eltern erleichtern ihren Kindern die Wahl, wenn sie sich im Internet oder mithilfe von Broschüren über die verschiedenen Berufsbilder ebenfalls informieren. So können sie die Eindrücke ihrer Kinder aus Schnupperlehren oder Betriebsbesichtigungen mit dem abgleichen, was sie selbst erfahren haben.»
Der Familienkonzern Bühler, der vor allem für die Herstellung seiner Anlagen für Getreidemühlen bekannt ist, bildet am Stammsitz in Uzwil sowie in einer Aussenstelle in Appenzell über dreihundert Lernende aus. Er gehört damit zu den grössten Schweizer Lehrbetrieben.
Der Bildungsexperte Neuenschwander betont ebenfalls die Wichtigkeit der Eltern bei der Berufswahl. 14- oder 15-Jährige hätten keinerlei Arbeits-, sondern nur Schulerfahrung, sagt er. So gesehen würden sie sich zwangsläufig an den Eltern und anderen beruflichen Vorbildern orientieren.
Für Jugendliche haben eigene Interessen Priorität
Neuenschwander plädiert zugleich dafür, dass Eltern nur beraten, aber nicht entscheiden. «Die Akteure bei der Berufswahl sind die Jugendlichen selbst.»
Dabei müssen Eltern in Kauf nehmen, dass ihr Wertesystem ein anderes als jenes der Jugendlichen ist. Laut Neuenschwander zeigen Untersuchungen, dass Jugendliche die Berufswahl nach ihren Interessen ausrichten. Eltern hingegen hätten eher den Status und die Chancen, die eine Ausbildung am Arbeitsmarkt biete, im Blick.
Eine dritte, nochmals andere Optik, verfolgen offenbar einige Grosseltern. Leute im Alter ab 65 achteten eher auf die Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit, sagt Neuenschwander.
«Überforderte Gymnasiasten können krank werden»
Worauf kommt es bei der Wahl der Ausbildung nun am ehesten an? «Alle drei Gruppen vertreten ein wichtiges Referenzsystem in der Laufbahnplanung», sagt Neuenschwander. Der Professor hält es dennoch für zentral, dass die Interessen eines Jugendlichen den Ausschlag für die Wahl eines Berufs geben. Dies biete am ehesten Gewähr, dass Jugendliche eine passende Ausbildung fänden, die sie mit Freude und hoher Motivation abschlössen.
Was die Frage «Sekundarschule oder Gymnasium?» betrifft, würde sich der Bildungsforscher vor allem in städtischen Gebieten mehr Zurückhaltung aufseiten von Eltern wünschen. Allzu oft passiere es, dass Eltern mit Universitätsabschluss sich an ihrem eigenen Bildungshintergrund orientierten und ihre Kinder ins Gymnasium drängten, obschon diese dafür gar nicht geeignet seien. «Das Resultat sind überforderte Gymnasiasten, und solche können krank werden.»
Neuenschwander hält grosse Stücke auf die Berufsbildung, auch mit Blick auf leistungsstarke Schüler. Dennoch will er den Wert des Gymnasiums nicht kleinreden, solange auch Kinder mit Eltern ohne akademischen Hintergrund Zugang dazu haben. Letzteres sei vor allem an Langzeitgymnasien allzu selten der Fall, kritisiert er. Als wichtigste Voraussetzungen für den gymnasialen Weg nennt Neuenschwander eine hohe Intelligenz, eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstregulation, eine positive Arbeitshaltung sowie eine hohe Lern- und Leistungsmotivation.
Der Industriekonzern Bühler setzt auf Durchlässigkeit
Bei Bühler sind auch Schüler nach der Matur für eine Lehre noch willkommen. Es komme immer wieder vor, dass ehemalige Gymnasiasten zum Schluss gelangten, dass die Berufsbildung für sie der bessere Weg als ein Universitätsstudium sei, sagt der Ausbildungsverantwortliche Bischof.
Bühler rekrutiert auch Schüler, die das Gymnasium abbrechen, als Lernende. Umgekehrt besuchen ehemalige Lehrlinge des Konzerns mit Berufsmatur die Fachhochschule, oder sie bereiten sich während einer einjährigen Passerelle mit Vollzeitschulunterricht auf den Wechsel an die Universität vor.
Häufige Berufs-, aber seltene Branchenwechsel
Die Durchlässigkeit zwischen unterschiedlichen Ausbildungsgängen gilt als grosser Vorteil des Schweizer Bildungswesens. Sie ermöglicht auch spätere Berufswechsel. Solche kommen erstaunlich oft vor. «Rund 80 Prozent der Leute wechseln mindestens einmal im Leben den Beruf», rechnet Neuenschwander vor.
Damit ist auch gesagt, dass die Wahl des Berufs, so schwer sie am Anfang auch fällt, meist kein Entscheid für den Rest des Lebens ist. Allerdings: Rund vier Fünftel der Berufstätigen bleiben in der Schweiz ihrer Branche ein Leben lang treu. Eine ehemalige Lehrerin wird eher Schulleiterin oder wechselt in die Bildungsverwaltung, als dass sie noch Informatik studiert und dann in die Industrie arbeiten geht.
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