Die Young Boys geben den Topskorer mitten im Meisterrennen an den Serie-B-Klub Como ab. Es ist nicht das erste Mal, dass YB einen verdienten Fussballer überraschend verabschiedet – aber noch nie wirkte es so riskant.
Wie hat es die YB-Klublegende Guillaume Hoarau kürzlich in der NZZ gesagt: «YB ist eine starke Institution geworden. Da kann ich nicht behaupten, dass der Entscheid 2020 gegen mich falsch war.»
Diese Worte sind von Bedeutung, wenn es um die Einordnung des neusten Entscheids dieser Berner Fussballinstitution namens YB geht. Die Führung um den Verwaltungsrat Christoph Spycher und den Sportchef Steve von Bergen verkauft Jean-Pierre Nsame an den Serie-B-Spitzenklub Como, ein halbes Jahr vor Vertragsende. Die Ablösesumme dürfte zwischen 500 000 und 750 000 Franken betragen.
Nsame wird im Mai 31 Jahre alt, in der Torschützenliste der Super League steht er im zweiten Rang, mit neun Toren, obwohl er nur zwölf Mal von Anfang an spielte. 2020, 2021 und 2023 war Nsame der beste Torschütze der Liga, er verbucht total 109 Super-League-Goals, nur zwei Tore fehlen zur Rekordmarke von Marco Streller.
Mit anderen Worten: Nsame ist eine kleine starke Institution für sich. Und jetzt geht er, kurz vor Schliessung des Winter-Transferfensters, mitten im Rennen um den sechsten Meistertitel mit YB.
Einen Transfer zu einem anderen Schweizer Klub lehnten die Young Boys kategorisch ab
Aber es blieb nichts anderes mehr übrig, Nsame nicht, YB nicht. In den vergangenen Wochen fand eine Entfremdung statt, wie sie kaum denkbar scheint für eine Sportbeziehung, die von derart viel Erfolg begleitet wird. Nsame hatte öffentlich über zu wenig Einsatzzeit geklagt, obwohl nur ein YB-Stürmer mehr Spielminuten aufweist (Meschack Elia). In der Winterpause stand früh schon im Raum, dass ihn der FC Basel und Servette verpflichten möchten; doch die Young Boys stellten klar, dass sie einem Transfer innerhalb der Schweiz nicht zustimmen würden.
Zuletzt soll Nsame ultimativ die Freigabe für einen Wechsel zu Servette gefordert haben, YB lehnte ab. Darauf habe Nsame ein Gespräch am Montagabend so beendet, dass er den Raum verlassen und die Türe zugeknallt habe – so war es in der «Tribune de Genève» zu lesen, gemäss Informationen aus dem «Nsame-Clan». Zu hören ist im YB-Umfeld aber auch: dass das Gespräch am späten Montagnachmittag stattgefunden und Nsame die Türe nicht zugeknallt habe.
Wenn es um solche Unterscheidungen geht – dann ist es das deutliche Zeichen, dass zwei Parteien keine andere Wahl mehr bleibt, als getrennte Wege zu gehen; dass YB gegen die Klublegende Nsame entscheidet.
Nsame stand im Schatten von Hoarau – und stieg zum Stammstürmer auf
Und damit zurück zu Hoarau, der Anfang 2024 nicht zu behaupten wagte, dass der Entscheid 2020 gegen ihn falsch gewesen war. Es war ein bemerkenswertes Eingeständnis zum damaligen YB-Entscheid, den Vertrag mit Hoarau nicht zu verlängern. Hoarau, eine Klublegende, damals 36. Er war eine prägende Figur gewesen, als YB 2018 erstmals seit 32 Jahren wieder Meister geworden war. In dieser Meistersaison 2017/18 schoss Hoarau 15 Tore in 25 Liga-Spielen, 20 Mal spielte er von Anfang an. Hoarau: der Stammstürmer.
Nsame wiederum schoss in besagter Meistersaison 13 Tore in 31 Spielen, 17-mal eingewechselt. Nsame: der Ersatzstürmer, so auch am 28. April 2018, als YB daheim gegen Luzern einen Sieg brauchte, um sich den Titel zu sichern. In der 74. Minute kam Nsame aufs Feld, in der 89. Minute schoss er das entscheidende 2:1. Eine Viertelstunde reichte ihm, um frühzeitig unvergesslich zu werden.
Was alles noch kam, all die weiteren Meistertitel 2019, 2020, 2021 und 2023, die Cup-Siege 2020 und 2023, die unendlich vielen Tore, der Aufstieg zum Stammstürmer, zum Hoarau 2.0 – all das hätte es nicht gebraucht für Nsames Image. Aber auch dieses unschöne Ende im Januar 2024 hätte es nicht gebraucht.
Nsame drängte nicht zum ersten Mal mit allen Mitteln auf einen Wechsel
Doch Nsame hat oft wenig gebraucht, eben etwa: wenig Zeit. In dieser Saison hat er im Durchschnitt alle 116 Minuten ein Tor geschossen. Aber nun hätte er sich mehr gewünscht, mehr unbestrittene Anerkennung, eine Verlängerung des Vertrags über den Sommer 2024 hinaus, dem Vernehmen nach zu besseren Konditionen. YB aber war nicht bereit, auf die finanziellen Forderungen einzutreten, ebenso wenig auf das Begehren nach mehr Einsatzzeit, weil neben Nsame weitere physisch starke Stürmer im Kader stehen.
«Ich will niemanden für dumm verkaufen, und ich will selbst nicht für dumm verkauft werden. Ich wusste, was ich wollte, also suchte ich das», so sagte es Nsame im Juli 2020 in der «NZZ am Sonntag». Es ging darum, wie Nsame 2017 den Wechsel zu YB erzwungen hatte, etwa mit einem Trainingsstreik, ausgerechnet bei Servette, wohin er sieben Jahre später wieder zurückkehren wollte. Deshalb sind auch diese Worte von Bedeutung, wenn es um die Einordnung der jüngsten YB-Entwicklung geht: weil Nsame nicht zum ersten Mal mit allerlei Mitteln auf einen Transfer drängte; weil er weiss, was er will.
Die Young Boys auf der Gegenseite sind «eine starke Institution» geworden, weil sie eben gerade auch zu Verabschiedungen von Publikumslieblingen bereit waren, von Hoarau und Marco Wölfli 2020, von Miralem Sulejmani 2022. Die Trennung von Nsame aber wirkt am riskantesten, sein sportlicher Einfluss war in jüngster Zeit grösser als die Bedeutung von Hoarau, Wölfli oder Sulejmani in ihren letzten Saisons; Hoarau etwa hatte im letzten YB-Jahr in 17 Liga-Spielen nur noch 2 Tore geschossen.
Nun setzt YB für die Rolle des robusten Stürmers auf Silvère Ganvoula, der nach 17 Liga-Spielen erst 4 Tore aufweist; und auf Cedric Itten, der seit dem Wechsel zu YB Mitte 2022 regelmässig trifft, aber auch schon 80 Tage ausgefallen ist. Mit dem Aussenverteidiger Ulisses Garcia liessen die Berner kürzlich zudem einen weiteren langjährigen Leistungsträger ziehen, nach Marseille, für einige Millionen Franken.
Es sind mutige Entscheide, und sollte YB im Frühling wieder Meister werden, wird niemand behaupten können, dass sie falsch waren. Die Berner haben schon häufig recht bekommen – bloss nicht im Frühling 2022, nachdem sie in der Winterpause vier durchaus wichtige Spieler abgegeben hatten, unter ihnen Nsame, leihweise nach Venedig. Eben, es hat oft wenig gebraucht. Nsame fehlte YB damals nur ein paar Monate – aber sie reichten, dass YB den Meistertitel verpasste, das einzige Mal in den vergangenen sechs Jahren.