Die neunziger Jahre waren das Jahrzehnt der Versprechungen, die sich in den vergangenen Jahren nicht erfüllt haben. Georg Diez sucht nach den «Kipppunkten», an denen sich die Zukunft entschied.
Sähe die Welt heute anders aus, wenn im Jahr 2000 Al Gore Präsident geworden wäre – und nicht wegen 537 Stimmen Unterschied in Florida George W. Bush? Mit Blick auf den Klimawandel könnte man sich diese Frage stellen. Doch wenn Georg Diez recht hat, lautet die noch spannendere Frage, wie es um Deutschland, um Europa, aber vor allem auch um die Umwelt heute bestellt wäre, wenn ein Jahrzehnt zuvor, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, Oskar Lafontaine Kanzler geworden wäre und nicht erneut Helmut Kohl.
«Hätte, hätte, Fahrradkette», sagt man im Alltag, um darauf hinzuweisen, wie fruchtlos es ist, über vergangene Versäumnisse zu lamentieren. Wenn es aber um Geschichte geht, hat die «Was wäre, wenn»-Frage schon immer Anlass für faszinierende Gedankenspiele geboten. Davon zeugen nicht nur «Alternate Universe»-Romane, in denen Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand das Jahr 1914 überleben oder Hitler über die Alliierten triumphieren darf. Sondern auch Überlegungen zu einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung von so unterschiedlichen Historikern wie Geoffrey Hawthorn, Niall Ferguson oder Yuval Noah Harari.
In ihre Fussstapfen ist der deutsche Journalist Georg Diez mit seinem Buch «Kipppunkte» getreten. Darin wird ein Bogen «Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart» geschlagen, wie der Untertitel lautet. Warum gerade die neunziger Jahre? Weil in diesem Jahrzehnt, so Diez, die Welt vorgespurt wurde, mit deren Mühen und Nöten wir heute leben. Und es stimmt ja: «Alles, was wir heute über die Klimakatastrophe wissen, war damals schon klar. Alles, was Elon Musk und andere an digital-libertären Dystopien erschaffen, wurde damals vorbereitet».
Die ganze Welt ist Love Parade
Warum also wurden die Weichen nicht rechtzeitig anders gestellt? Wo und warum sind Politik und Gesellschaft falsch abgebogen? Und was lässt sich aus diesen Fehlern für die Zukunft lernen? Für Georg Diez ist ein Denken in Alternativen das beste Mittel gegen Politikverdruss, Frustration und Resignation. Das mag richtig sein, aber: Steht Diez’ «Es ist noch nicht zu spät»-Haltung nicht im Widerspruch zu seiner Leitmetapher der «Kipppunkte»? Diese seien, so Diez, im Politischen, «anders als die Kipppunkte der Klimaforschung, nicht unumkehrbar».
Tatsächlich gehört es zur Definition eines Kipppunkts, dass bei seinem Erreichen ein System schlagartig von einem Zustand in einen anderen wechselt. Und es gibt auch und gerade im Politischen, allem Gerede von «Disruption» zum Trotz, das Problem der Pfadabhängigkeit. Es gibt den sogenannten «Lock-in-Effekt», wonach ein einmal eingeschlagener Weg weiterverfolgt wird, auch wenn Alternativen besser gewesen und vielleicht nicht erst im Nachhinein zu erkennen gewesen wären. Trotzdem kommt es am Ende doch nur zur x-ten Gesundheits- oder Rentenreform und nicht zu einem kompletten Neuansatz. Und Donald Trumps Traum von den reindustrialisierten USA dürfte wohl nie Wirklichkeit werden.
Von diesem Einwand abgesehen, bietet Diez’ Buch eine faszinierende, facettenreiche Rückschau auf eine Epoche voller Optimismus, Zukunftsglauben, aber auch voller aufschlussreicher Widersprüche. Die Neunziger, das war eben nicht nur die fröhliche Post-Mauerfall-Ära, als sich der Westen als Sieger fühlte und der amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama «Das Ende der Geschichte» ausrief. Als sich Europäische Union und Nato unbekümmert nach Osten ausdehnten und Ironie und Spassgesellschaft triumphierten, als wäre die Welt eine einzige Love Parade.
Die alten Probleme
Die Neunziger waren auch die Zeit einer entfesselten amerikanischen Hegemonie, wachsender Ungleichheiten – und komplementär dazu eskalierender Globalisierungsproteste, die, wie heute der Klimaaktivismus, umgehend von einem hysterischen Establishment kriminalisiert wurden, wie Diez schreibt.
In sieben Kapiteln untersucht der Autor unter Berufung auf Zeitzeugen wie Stefan Mau, Wolfgang Thierse, Anke Domscheit-Berg oder Rita Süssmuth Themenkomplexe wie das Ende des Kalten Krieges, Migration, Globalisierung, Digitalisierung oder den politischen Umgang mit dem Klimawandel. Ein ums andere Mal wird deutlich, dass es die Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, damals schon gab und dass sie vielleicht rechtzeitig hätten gelöst werden können. Oder dass sie erst damals entstanden sind, wie der ungebremste Aufstieg der Tech-Konzerne.
Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner in Diez’ Rückblicken, so ist es der Bezug auf das neoliberale Denken in der Tradition Milton Friedmans, das im Vertrauen auf die Kräfte eines freien Marktes in den achtziger Jahren die Politik mehr und mehr entmachtete. Gesamthaft, davon ist jedenfalls Diez überzeugt, habe dieses Denken mehr Probleme geschaffen als gelöst: ob es um den «Aufbau Ost» in den neuen Bundesländern ging, die Entstehung eines Raubtierkapitalismus im Post-Gorbatschow-Russland oder das von Öl-Lobbyisten sabotierte Bemühen um eine Abkehr von fossilen Brennstoffen auf den unzähligen Klimakonferenzen von Rio de Janeiro bis Kyoto.
China als Vorbild?
Das ist wenig überzeugend. Und nahezu unverständlich ist, wenn Diez im Entstehen einer breiten Mittelschicht im globalen Süden keinen Fortschritt sehen will, sondern nur eine Verschärfung des Klimaproblems. Oder dass er ausgerechnet den autoritären Weg Chinas als Vorbild für einen behutsameren Umbau hin zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen anführt.
Was Oskar Lafontaine als deutschen Bundeskanzler in einem Paralleluniversum angeht: Für Georg Diez kamen Mauerfall und Wiedervereinigung zur Unzeit, weil sie die sozial-ökologische Modernisierung der Bundesrepublik um acht Jahre verzögerten. Gesellschaftlicher Stillstand war nach Diez’ Überzeugung die Folge. Und ein Vereinigungsprozess voller Kränkungen und versehrter Lebensläufe, bei dem sich immer nur der Osten an den Westen anpassen sollte.
Als dann 1998 unter Gerhard Schröder die Modernisierung nachgeholt wurde, war sie in der Form, in der sie in den Neunzigern möglich gewesen wäre, nicht mehr möglich. Vielleicht wird einmal ein Roman geschrieben, der diese schöne, alternative Lafontaine-Welt ausfabuliert.
Georg Diez: Kipppunkte. Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart. Aufbau Verlag, Berlin 2025. 395 S., Fr. 39.90.