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Louise Bertin hat als erste und einzige Frau im 19. Jahrhundert eine Oper über Goethes Sinnsucher-Drama komponiert, und das sogar, noch vor Wagner, auf ein von ihr selbst verfasstes Libretto. Die Wiederaufführung des vergessenen Stücks ist eine Entdeckung.
Mehr als hundert Musiken gibt es zu Goethes «Faust». Die meisten entstanden im romantischen neunzehnten Jahrhundert. Der Geheime Rat, soweit ihn jemand persönlich mit diesen Vertonungen behelligte, hielt in der Regel wenig davon. Er wünsche sich, so sagte er einmal, dass Mozart den Faust zu einer Oper gemacht hätte. Aber der war schon lange tot. Als ihm dann Hector Berlioz im Jahr 1829 seine «Huit Scènes de Faust» zusandte, reichte Goethe diese wunderlichen «Noten-Figuren» gleich weiter an seinen sauertöpfischen Freund Carl Friedrich Zelter, dessen Begutachtung entsprechend vernichtend ausfiel: ein «Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeien» sei das, bei dem sich alle Instrumente im Orchester «regen und spuken» würden.
Zu diesem Zeitpunkt war die erste abendfüllende «Faust»-Oper nach Goethe aber bereits in Arbeit. Komponiert wurde sie von einer Frau: Sie hiess Louise-Angélique Bertin, war vierundzwanzig Jahre alt, Pariserin, Malerin, Dichterin und mit Berlioz befreundet. Er widmete ihr seinen berühmten Liederzyklus «Les Nuits d’Été». Sie bat ihn, ihr bei Proben zu helfen. Louise Bertin war, seit ihrer Geburt, teilweise gelähmt, sie konnte am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt teilnehmen. Ein Mauerblümchen war sie deshalb noch lange nicht.
Eine Fundgrube
Als höhere Tochter aus gutem Hause hatte sie eine hervorragende Ausbildung erfahren, der elterliche Umgang bot ihr einen gewissen Schutzraum, ihr Salon wurde zum Treffpunkt für Künstler und Gelehrte, unter ihnen Meyerbeer, Liszt, Victor Hugo. Bereits mit zwanzig brachte sie ihre erste Oper in Paris zur Uraufführung: «Guy Mannering», nach Walter Scott. Die Uraufführung ihrer «Faust»-Oper fand dann im März 1831 statt, knapp ein Jahr vor Goethes Tod, im Théâtre-Italien in Paris. Das von Bertin selbst verfasste Libretto war, wie es die Tradition dieses Theaters verlangte, eigens ins Italienische übersetzt worden. Das Stück hiess nun also «Fausto». Gut, dass Goethe nichts davon wusste!
Bis vor kurzem wusste auch das Gros der Musikwelt nichts mehr davon. Louise Bertin ist in Vergessenheit geraten, wie die meisten komponierenden Frauen in dieser Zeit. Just in Frankreich gab es etliche davon – wie viele, das hat erst im vergangenen Jahr eine spektakuläre Dokumentation des Palazzetto Bru Zane ans Licht befördert. Seit 2009 befasst sich diese Stiftung mit der Wiederentdeckung vergessener französischer Musik. «Compositrices» heisst die Edition, sie stellt auf acht CD 185 Werke von insgesamt 21 französischen Komponistinnen vor: Lieder, Orchester-, Klavier- und Kammermusik, vieles davon erstmalig eingespielt und gesungen von namhaften Interpreten. Eine Fundgrube!
Musik lebt nur, wenn sie erklingt. Das ist eine tödliche Binsenwahrheit. Namen wie Lili Boulanger oder Pauline Viardot-Garcia mögen geläufig sein. Aber wer kennt ihre Musik? Und wer kennt, zum Beispiel, Augusta Holmès? Von ihr sind allein drei Kompositionen enthalten in dieser Edition, darunter die sinfonische Dichtung «Andromède»: ein wundersam schillerndes, harmonisch grenzgängerisches Stück, entstanden 1899, als Reaktion auf Wagner. Mitte Januar brachte das Opernhaus Dortmund, wiederum mit editorischer Nachhilfe der Bru-Zane-Stiftung, die szenische Wiederaufführung der Oper «Der schwarze Berg» von Augusta Holmès zustande.
Jetzt zog das benachbarte Aalto-Theater Essen nach mit dem «Fausto» von Louise Bertin, 193 Jahre nach der Uraufführung, erstmals wieder in Szene gesetzt von Tatjana Gürbaca, dirigiert von Andreas Spering. Das war umso spannender, als im letzten Fall sogar schon eine vom Palazzetto bewerkstelligte Studioaufnahme vorliegt. Freilich ist die Partitur nicht identisch mit der in Essen gespielten; es gibt nämlich zwei Fassungen. Sie zu vergleichen, das ist wie ein Blick ins Innere der Werkstatt, um nicht zu sagen: in Fausts Laboratorium.
Faust war eine Hosenrolle
Nach einem ersten Anlauf, den «Fausto» am Pariser Théâtre-Italien unterzubringen, waren die Proben wegen Zicken der Primadonna Maria Malibran, die die Rolle der Margarita hätte singen sollen, von 1830 auf 1831 verschoben worden. Die Titelpartie hatte Bertin ursprünglich, ganz in der Tradition Rossinis, als Hosenrolle konzipiert und dem Mezzosopran von Rosmunda Pisaroni in die geläufige Kehle geschrieben, mit entsprechend virtuosen Sprüngen. Man hört das immer noch. Die Zweitfassung von 1831 ist zwar transponiert worden für Tenor, die Intervallsprünge sind aber noch immer enorm. Trotzdem verschränken sich die Stimmen der Liebenden in den Duetten und Ensembles nicht mehr halb so intensiv, wie sie es, terzenselig und ungleich wirkungsvoller, in der Erstfassung für zwei Frauenstimmen taten.
Die Erstfassung von 1830, konzertant eingespielt von Christoph Rousset und den Les Talens Lyriques, ist auf CD zu hören mit historischen Instrumenten und dem erotischen Faust von Mezzosopran Karine Deshayes. In Essen dirigiert nun Andreas Spering die zweite Version mit modernen Instrumenten. Essens Philharmoniker bringen die von Bertin kultivierte krachende Bläserfarbenpracht, aber auch das von Berlioz erlernte «Husten, Schnauben, Krächzen» herrlich zur Geltung. Der Tenor Mirko Roschkowski singt seinen Faust kraft- und glanzvoll, wird freilich übertroffen von seinem Widersacher Mephisto, für den Almas Svilpa mehr Charakterfarbe und Witz mitbringt.
Phantastisch ist die Dynamik der Chorpartien, in denen Bertin den Rahmen einer Semi-Seria-Oper geradezu sprengt. Wie überhaupt die alte Nummernoper im Begriff ist, sich aufzulösen, und aufgeht in quasi durchkomponierten Ensembleszenen. Da die Besetzung der Margarita kurzfristig erkrankt war, sang ersatzweise die Sopranistin Netta Or vom Notenpult aus, souverän. Gürbaca selbst übernahm die szenische Darstellung der Rolle.
Als Regisseurin hat sie die Handlung in ein klinisch weisses Krankenhaus verlegt, ins Neonlicht, wo Chefarzt Doktor Faust von Lernschwester Margarita umschwärmt wird und in der Pathologie eine Leiche namens Mephisto der wundersamen Wiedererweckung harrt. Die Sache geht nicht ganz auf. Ausserdem sind Opernkrankenhäuser wirklich allmählich langweilig. Unfreiwillig zeigt das auch: Aus diesem Stück wäre noch so viel mehr zu machen.