Die Proteste der Landwirte in Europa ebben nicht ab. Die Politik ist an den Protesten mitschuldig: Man hat den Bauern nie gesagt, dass sie Opfer bringen müssen.
Niemand werde zurückgelassen, sagte EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, als sich die Bauernproteste fast europaweit ausbreiteten. Aufgeschreckt durch die Demonstrationen, kam sie den Landwirten einen Schritt entgegen. Das Ziel, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der EU zu halbieren, hat sie vor kurzem sistiert.
Die EU will eine umweltfreundlichere Landwirtschaft. Sie soll weniger Treibhausgase wie Methan, Stickoxid oder Kohlendioxid ausstossen und die Böden mehr schonen. Dass diese Neuausrichtung den Bauen viel abverlangen und es Verlierer geben wird, hat die EU ihnen aber nie gesagt.
Und noch immer schrecken die Politiker vor klaren Aussagen zurück. Das gilt nicht nur für von der Leyen, sondern auch für die Regierungen der Mitgliedsländer. Das rächt sich nun – die Bauern haben den Eindruck, sie seien von der Politik überfahren worden.
Hohe Investitionen sind nötig
Dabei haben die Experten der EU, welche die Kommission in Sachen Klimapolitik beraten, klar darauf hingewiesen, wie schmerzhaft die neue Landwirtschaftspolitik für die Bauern sein werde. Sie erfordere hohe Investitionen und führe bei den Landwirten zumindest kurzfristig zu niedrigeren Einkommen, heisst es im EU-Bericht zur Klimaneutralität. Die Bauern wollen diese Kosten offensichtlich nicht tragen, die Konsumenten aber auch nicht.
Die Landwirte müssten sich Gedanken über eine Neugestaltung ihrer Produktepalette machen, fordert der Bericht weiter. So sollen sie etwa mehr Nischenprodukte mit höherer Wertschöpfung herstellen, etwa Nüsse, Früchte und Gemüse, und dafür die Tierhaltung reduzieren. Ferner offeriert der Agrartourismus laut den Experten Geschäftschancen. Kritik an der Agrarpolitik der EU schwingt im Bericht ebenfalls mit: Der angestrebte Wandel spiegle sich nicht in der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP).
Tatsächlich ist die europäische Landwirtschaft in eine Sackgasse geraten, obwohl die EU sie seit Jahrzehnten mit hohen Beträgen unterstützt. Für die Jahre 2021 bis 2027 hat der Staatenbund Agrarsubventionen in Höhe von 386 Milliarden Euro budgetiert. Das entspricht rund einem Drittel der vorgesehenen Gesamtausgaben.
Für so viel Geld wünscht die EU natürlich einen Nutzen – möglicherweise will sie aber zu viel. Seit sechzig Jahren besteht das Ziel der GAP darin, die Profitabilität der Bauernbetriebe zu erhöhen, für die Landwirte gut Lebensbedingungen zu schaffen und die Konsumenten mit Lebensmitteln zu «vernünftigen» Preisen zu versorgen. Zudem soll die GAP dazu beitragen, die Landregionen zu entwickeln.
«Stickstoffkrise» in den Niederlanden
Verglichen damit sind die Resultate zwiespältig. In vielen Ländern hat die Landwirtschaft ernsthafte Umweltschäden verursacht, in den Niederlanden spricht man gar von der Stickstoffkrise. Auf dem Weltmarkt sind Europas Bauern trotzdem nur teilweise konkurrenzfähig. Und das Tierwohl halten viele Kritiker für verbesserungswürdig.
Möglicherweise hat die EU der Landwirtschaft einfach zu viele Ziele aufgebürdet – nach dem Motto: Wenn sie schon so viel kostet, soll sie auch alles Erdenkliche leisten. Trotz zweifelhaftem Resultat fährt die EU mit dieser Politik fort. Laut neuen Vorstellungen gehört es etwa auch zu den Agrarzielen, den Anteil der Bäuerinnen zu erhöhen.
Wirtschaftlich gesehen ist Europas Landwirtschaft «stuck in the middle» (gefangen in der Mitte). Sie ist weder so effizient wie jene der grossen Agrarländer noch überragend im Fertigen von Spezialitäten.
Wenn man die in Brüssel protestierenden Bauern fragt, was sie denn produzierten, heisst es meist: Zuckerrüben, Mais und Weizen. Also zum grossen Teil austauschbare Standardware, die häufig von verhältnismässig kleinen Höfen hergestellt wird. Europas Bauernbetriebe unterscheiden sich bei der Grösse allerdings stark: In Tschechien bewirtschaften die Landwirte im Durchschnitt weit über 100 Hektaren Land, in der Mittelmeerregion sind es dagegen oft nur wenige Hektaren.
Das macht es für viele Bauern schwierig, ein Auskommen zu finden. Mitschuldig an der Misere sind nun aus ihrer Sicht die teilweise sehr grossen ukrainischen Agrarfirmen, die teilweise 100 000 Hektaren und mehr bewirtschaften. Seit 2016 wird der Agrarhandel zwischen der Ukraine und der EU schrittweise liberalisiert, im Juni 2022 sind alle Handelsbarrieren allerdings rascher als geplant gefallen. Damit wollte die EU dem kriegsgeplagten Land finanziell helfen.
Polemik gegen ukrainischen Unternehmer
Die Proteste von Europas Bauern reissen seither nicht ab. Polens Landwirte klagen über Weizenimporte, anderswo sind die Einfuhren von Honig, Zuckerrüben oder Beeren Gegenstand von Protesten. Frankreichs Bauernschaft fühlt sich vom Geflügel der ukrainischen Firma MHP bedroht.
Selbst Präsident Emmanuel Macron hat sich in die Diskussion eingeschaltet. Er sagte, von den Einfuhren profitiere in erster Linie ein ukrainischer Milliardär, der MHP-Gründer Juri Kosjuk. Die Politik hat also gemerkt, welche Sprengkraft die Landwirtschaftspolitik besitzt, und biedert sich bei den Bauern an.
Die ukrainischen Landwirte fühlen sich derweil selbst unter Druck gesetzt, und zwar von Russland. Die Agrarbetriebe des Landes haben jüngst von günstigen Wetterbedingungen profitiert und viel Getreide geerntet. Vieles davon geht nun in den Export, auch nach Europa. Das hat den Weizenpreis gedrückt.
Doch darüber würden sich die Bauern der EU nicht beklagen, sagt ein ukrainischer Agrarvertreter in Brüssel frustriert. Er glaubt, dass die Ukraine nun der Sündenbock sei für die verfahrene Situation, die in Europas Landwirtschaft herrsche.