Die EU-Staaten und die Türkei wollen ihre Beziehung verbessern. Die grösste Hürde auf dem Weg dahin bleibt die Zypern-Frage – und ein unberechenbarer türkischer Präsident.
Im türkischen Präsidentenpalast geben sich europäische Politiker derzeit die Klinke in die Hand. Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Bundespräsident, reiste letzte Woche nach Ankara, um mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan über die Ukraine, den Nahostkonflikt und deutsche Rüstungsexporte zu reden.
Kurz darauf traf der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte ein, um Erdogan seinen Respekt zu bezeugen und sich dessen Segen für seine Kandidatur als Nato-Generalsekretär einzuholen. Auch Kyriakos Mitsotakis, der griechische Ministerpräsident, wird bald in Ankara für bilaterale Gespräche erwartet.
Aufeinander angewiesen
Die Begegnungen finden vor dem Hintergrund eines diplomatischen Tauwetters zwischen Europa und der Türkei statt. Die Staats- und Regierungschefs hatten an ihrem jüngsten EU-Gipfel überraschend auch eine strategische Debatte über ihr schwieriges Verhältnis zum ewigen Beitrittskandidaten geführt.
Die EU, heisst es in der Abschlusserklärung, habe ein grosses Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld im östlichen Mittelmeerraum. Es gehe um die «Entwicklung einer kooperativen und für beide Seiten vorteilhaften Beziehung». Nach jahrelangem Stillstand und vielen Irritationen soll wieder konstruktiv zusammengearbeitet werden.
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell hatte dafür schon im November einen Bericht vorgelegt, in dem er eine engere Kooperation in den Bereichen Handel, Energie, Verkehr und Migrationssteuerung forderte. Auch eine Modernisierung der Zollunion schlug Borrell vor, um wirtschaftliche Anreize zu setzen. Daran hat vor allem Ankara Interesse. Noch gilt der freie Handel mit der EU nur für gewerbliche Waren, landwirtschaftliche Güter und Dienstleistungen sind ausgenommen.
Die Erkenntnis, dass an der Regionalmacht Türkei geostrategisch kein Weg vorbeiführt, ist nicht neu. Mit Blick auf die explosive Lage in der Region, die Nähe zu Russland, Israel und Iran und auch angesichts der Flüchtlingsfrage, bei der Ankara mit Brüssel kooperiert, kann es sich die EU nicht leisten, Erdogan zu isolieren. Das ist der eine Grund, warum Tauwetter in den bilateralen Beziehungen herrscht.
Der andere: Auch Erdogan weiss, dass er die Europäer – und den Westen im Allgemeinen – braucht. Die wirtschaftliche Lage bleibt schwierig, die Türkei braucht dringend Investoren. Die Verwerfungen der letzten Jahre standen dem im Weg. Ohnehin sind Deutschland und die EU die mit Abstand grössten Handelspartner des Landes. Von Fortschritten bei der Zollunion kann sich Ankara direkte Verbesserungen des Wirtschaftsgangs erhoffen.
Aber auch sicherheitspolitisch ist Ankara auf internationale Kooperation angewiesen. Sein strategisches Ziel der rüstungspolitischen Autarkie gilt zwar weiterhin, ist aber trotz grossen Fortschritten auf absehbare Zeit nicht erreichbar. Der Partner der Wahl bleibt für den Nato-Staat Türkei der Westen. Der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 hatte sich rückblickend als folgenschwerer Fehlentscheid erwiesen.
Entspannung in der Ägäis
Seit seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr ist Erdogan deshalb um ein möglichst reibungsloses Verhältnis mit dem Westen bemüht. Der neue Aussenminister Hakan Fidan steht für diesen Kurs. Im Januar lenkte Ankara endlich in der Frage von Schwedens Nato-Beitritt ein. Im Gegenzug dazu erhielt die Türkei grünes Licht aus den USA für den Kauf neuer Kampfflugzeuge.
Bereits zuvor war das Verhältnis zu Griechenland, wo noch vor wenigen Jahren sogar ein Waffengang denkbar schien, repariert worden. Dank gelockerten Visabestimmungen besuchte eine Rekordzahl türkischer Touristen über die Feiertage zum Ende des Fastenmonats Ramadan griechische Inseln in der Ägäis.
Der jüngste Beschluss des Europäischen Rates wird in der Türkei aber als Rückschlag aufgefasst, vor allem wegen der Verknüpfung mit dem Zypern-Konflikt. In der Gipfelerklärung heisst es, dass ein «konstruktives Engagement» Ankaras in dieser Frage «entscheidend» dazu beitragen werde, die Zusammenarbeit voranzutreiben.
In der Türkei kam das nicht gut an. Ankara sieht sich als Partner auf Augenhöhe und ist nicht bereit, in dieser Frage in Vorleistung zu gehen, um dafür irgendwann von der EU belohnt zu werden. Das vielschichtige Verhältnis zwischen der Türkei und der EU könne nicht auf Zypern reduziert werden, erklärte das Aussenministerium. Die EU habe wieder einmal unter Beweis gestellt, dass es ihr in Bezug auf die Türkei an strategischer Weitsicht fehle.
Auch unabhängige Beobachter waren konsterniert. Nilgün Arisan Eralp von der Denkfabrik Tepav sprach von einer scheinheiligen Haltung der EU. Brüssel blende völlig aus, dass der Annan-Plan, die letzte Initiative zur Lösung des Zypern-Konflikts, vor allem am Widerstand der Griechischzyprioten gescheitert sei.
In der Türkei ist die Ansicht weit verbreitet, dass Zypern keinen Anreiz habe, Kompromisse einzugehen, da es als EU-Mitglied in den europäischen Beziehungen zur Türkei über ein faktisches Vetorecht verfüge. Statt die seit Jahrzehnten ungelöste Frage zur Vorbedingung zu machen, sollte man in einem ersten Schritt die Zusammenarbeit in weniger kontroversen Feldern vorantreiben.
Laut Nigar Göksel von der Crisis Group spielt der Beschluss des Rates deshalb letztlich jenen in die Hand, die gegen eine engere Kooperation zwischen Europa und der Türkei seien.
My Twitter (X) homepage is churning with posts by Turkish advocates of improved relations with the EU expressing disillusionment about the latest EU Council conclusions which effectively linked any progress on Turkey-EU relations to the progress of Cyprus talks on RoC terms.…
— Nigar Göksel (@nigargoksel) April 22, 2024
Erdogan will Gegenleistungen
Inwieweit die Türkei bereit ist, in anderen Fragen auf die EU zuzugehen, ist Spekulation. Als vor einigen Wochen ein regierungsnaher Journalist schrieb, dass die andauernde Inhaftierung von Osman Kavala der Türkei keinen Nutzen bringe, kam die Hoffnung auf eine mögliche Freilassung des berühmtesten politischen Häftlings des Landes auf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert dies schon lange.
Falls Erdogan dies tatsächlich erwogen haben sollte, dann ist das Fenster wieder geschlossen. Der türkische Präsident denkt in der Aussenpolitik stark transaktional. Wie beim schwedischen Nato-Beitritt erwartet er für ein Entgegenkommen konkrete Gegenleistungen – dass eine gestärkte Nordflanke des Verteidigungsbündnisses im Interesse jedes Mitglieds und somit auch der Türkei ist, spielt dabei keine Rolle.
«In Ankara ist man der Ansicht, dass sich die positiven Signale an die USA einigermassen gelohnt hätten. Schliesslich hat man die neuen Kampfflugzeuge bekommen», sagt der Aussenpolitikexperte Özgür Ünlühisarcikli vom German Marshall Funds in Ankara. «In Bezug auf Europa sieht man das anders.»
Denn nicht nur bei der Zollunion stocken die Verhandlungen, sondern etwa auch bei Rüstungsfragen. Dass Deutschland den Verkauf von Eurofightern an den Nato-Partner Türkei blockiert, beim Export nach Saudiarabien aber keine Bedenken hat, stösst in Ankara auf grosses Unverständnis.
Auch in den Beziehungen zu den USA verdunkelt sich der Himmel wieder, nicht zuletzt wegen des Kriegs in Gaza. Seit der Niederlage bei den Lokalwahlen hat Erdogan aus innenpolitischen Gründen seine ohnehin schon sehr laute Kritik an Israel und dem Westen verschärft.
Dem ist nun die auf den 9. Mai geplante Reise nach Washington zum Opfer gefallen. Ankara hat während Jahren auf diesen ersten Besuch bei Präsident Biden hingearbeitet. Nun scheint man die Reise doch nicht für opportun zu halten. Der Termin sei auf ein unbestimmtes Datum in der Zukunft verschoben worden, erklärte das Aussenministerium diese Woche.