Die Kriegsführung im Gazastreifen sorgt in Brüssel für immer mehr Kritik. Israel reagiert gereizt.
Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel, das neben wirtschaftlicher Integration auch einen regelmässigen politischen Dialog vorsieht, ist seit dem Jahr 2000 in Kraft – und seit Beginn Gegenstand politischen Seilziehens. Im vergangenen November berieten die EU-Aussenminister über einen Antrag, das Abkommen als Reaktion auf die israelische Kriegsführung im Gazastreifen vorläufig auszusetzen. Damals unterstützten allerdings nur eine Handvoll Länder das Anliegen.
Innerhalb weniger Monate hat sich die Stimmung geändert: Wie die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas am Dienstagabend nach dem Aussenministertreffen verkündet hat, sprach sich eine «starke Mehrheit» der EU-Länder dafür aus, das Assoziierungsabkommen zu überprüfen. Konkret soll evaluiert werden, ob sich Israel noch an die universellen Menschenrechte hält, wie es das Abkommen vorsieht. Es geht also, anders als im Winter diskutiert, vorerst nicht um eine Suspendierung des Vertrags – aber es könnte ein erster Schritt dahin sein.
Österreich änderte die Meinung
Grund für den Meinungswandel einiger Mitgliedstaaten ist die humanitäre Lage im Gazastreifen, die sich aufgrund der israelischen Nahrungsmittelblockade zuletzt stark verschlechtert hat. Wie die Mehrheitsverhältnisse im Rat waren, wollte Kallas nicht kundtun.
Aus diplomatischen Kreisen heisst es, dass sich 17 von 27 Ländern hinter das Anliegen stellten, darunter etwa Frankreich und Spanien, aber auch Österreich, das im November noch anders gestimmt hatte. Deutschland stellte sich dagegen, um die privilegierten Gesprächskanäle zu Israel nicht zu gefährden.
Praktisch alle EU-Staaten wollen zudem Sanktionen gegen radikale jüdische Siedler im Westjordanland ergreifen – so, wie es Grossbritannien am Dienstag getan hat. «Ja, die Sanktionen sind vorbereitet. Aber leider hat sie ein Mitgliedstaat blockiert», sagte Kallas, ohne diesen zu nennen. Wie Diplomaten übereinstimmend berichten, handelt es sich dabei um Ungarn.
«Totales Missverständnis der komplexen Realität»
Kaum waren die Beschlüsse des Aussenministerrats bekannt, reagierte das israelische Aussenministerium mit einer scharfen Stellungnahme. Die – von einer Mehrheit der EU-Staaten gestützten – Aussagen von Kallas entsprächen einem «totalen Missverständnis der komplexen Realität», heisst es darin. Die Hamas habe Israel zum Krieg gezwungen und sei die einzige Verantwortliche für dessen Andauern. «Wir fordern die EU auf, dort Druck auszuüben, wo es nötig ist – auf die Hamas», schreibt das Ministerium.
Der Ball liegt nun bei der EU-Kommission. Kallas, die als eine deren Vize-Präsidentinnen eine Doppelfunktion innehat, stellte in Aussicht, dass sich die Kommission umgehend an die Arbeit machen werde. Für eine Aussetzung des Assoziierungsabkommens wäre allerdings Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern notwendig – und diese ist derzeit nicht in Sicht.
Diplomaten-Reise war abgesprochen
Am Mittwoch ereignete sich zudem ein Zwischenfall, der die Spannungen zwischen der EU-Spitze und Israel noch zusätzlich verschärft. Bei einem Besuch von rund 20 ausländischen Diplomaten im Westjordanland, der mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und dem israelischen Militär abgesprochen war, gaben israelische Soldaten offenbar Warnschüsse in Richtung der Gruppe ab. Die Hintergründe des Vorfalls sind noch unklar.
Der belgische Aussenminister Maxime Prévot zeigte sich über das Geschehene «schockiert». Sein Land verlange von Israel «überzeugende Erklärungen», schrieb er auf X. Zurückhaltender äusserte sich EU-Chefdiplomatin Kallas. Sie erinnerte Israel an die völkerrechtliche Verpflichtung zum Schutz von Diplomaten und rief die Regierung auf, den Zwischenfall aufzuklären.