Lange gescholten, brechen immer mehr europäische Indizes auf neue Allzeithöchst aus. Aus markttechnischer Sicht ist das ein gutes Zeichen.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Trump sorgt für neue Allzeithöchst – in Europa. So begann Bloomberg-Kolumnist John Authers seine gestrige Kolumne. Und in der Tat haben europäische Indizes seit Anfang Jahr die Nase vorn. So liegt der Euro Stoxx 50 um die 7% im Plus. Noch besser schnitten der deutsche Dax und der französische Cac40 ab, die beide fast 8% höher notieren, während der S&P 500 auf ein Plus von 4% kommt. Der technologielastige Nasdaq 100, bis kurz nach der Wahl von Donald Trump das Mass aller Dinge, hinkt mit seinem Gewinn von 3,9% dem S&P 500 sogar noch hinterher.
Das gute Abschneiden hiesiger Werte dürfte viele Experten auf dem falschen Fuss erwischt haben. Bis vor kurzem galten europäische und asiatische Aktien als klare Verlierer der Handelspolitik des neuen US-Präsidenten. Dazu kommen eine lahmende Wirtschaft ohne Anzeichen einer Beschleunigung und politische Unsicherheiten. Der Vorsprung Amerikas schien so klar, dass es eigentlich fast anders kommen musste. Das haben auch wir auf der Redaktion so empfunden – nur fanden wir im Spätherbst vor allem Gründe GEGEN die USA und keine FÜR Europa.
Europäische Aktien sind schon lange günstig
Gewiss, europäische Valoren handeln mit rekordhohem Bewertungsabschlag zu ihren US-Pendants. Nur ist das schon seit mehr als zehn Jahren der Fall, ohne dass sich daran etwas geändert hätte. Im Gegenteil, US-Aktien wurden dank der technologischen Vormachtstellung des Landes immer teurer.
Auch der Ruck durch Europas Politik als Reaktion auf die Wahl Trumps, der von manchen Experten herbeigesehnt wird, muss sich erst noch materialisieren. Zwar ist in Deutschland am Tag nach der US-Wahl die Regierung auseinandergebrochen, was den Weg für Neuwahlen geebnet hat. Der Reformbedarf in Europa ist unbestritten riesig, ob er aber von einer neuen deutschen (oder anderen) Regierung angepackt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Und trotzdem werden derzeit vor allem die europäischen Indizes wachgeküsst, was sich auch in der monatlichen Fondsmanagerumfrage von Bank of America zeigt, gemäss der so viele Experten nach Europa umgeschichtet haben wie seit 2015 nicht mehr. Nicht klar ist, ob sie das nur sagen – es ist eben «nur» eine Umfrage – oder auch getan haben.
Euro Stoxx 50 nähert sich 25-Jahreshöchst
Klar ist, dass der Euro Stoxx 50 im Januar auf ein neues Mehrjahreshöchst vorgestossen ist. Bis zum Allzeithöchst vom März 2000 – ja, Sie haben richtig gelesen – fehlen dem europäischen Leitbarometer noch 5%. Es wäre schon fast kitschig, wenn der Index sein Höchst rund um dessen 25. Geburtstag egalisiert:
Euro Stoxx 50
Die «Rekordjagd» beschränkt sich derweil nicht auf den Euro Stoxx 50, im Gegenteil: Der Dax befindet sich schon seit Jahren in einem Höhenflug, trotz lahmender Wirtschaft und dysfunktionaler Regierung. Allerdings ist das deutsche Leitbarometer ein Performanceindex, die Dividenden werden also eingerechnet. Der Kurs-Dax, der wie die meisten anderen Börsenbarometer ein reiner Preisindex ist, hat seine ebenfalls bis ins Jahr 2000 zurückreichende Widerstandszone zwischen 6300 und 7300 erst im November – also im US-Wahlmonat – nachhaltig überwunden:
Kurs-Dax
Sogar französische Aktien sind gefragt
Kurz vor dem Ausbruch steht auch das französische Leitbarometer Cac40, und das trotz mehr oder weniger handlungsunfähiger Regierung und einem Budgetdefizit von mehr als 6%, das aus Sorge um die Kreditwürdigkeit des grössten Schuldners der Eurozone die Kreditrisikoprämien zu deutschen Bunds so weit in die Höhe getrieben hat, dass Frankreich für seine Schulden inzwischen mehr bezahlen muss als Spanien:
Cac40
Den Ausbruch schon hinter sich hat der britische FTSE 100, der ebenfalls seit Jahren nicht vom Fleck kam. Zu schlecht lief die britische Wirtschaft, dazu kamen die unvorteilhafte Sektorzusammensetzung mit vielen Finanz-, Rohstoff- und Basiskonsumwerten, die Brexit-Wirren und die immer wieder wechselnden Regierungen mit dem Höhe- oder wohl besser Tiefpunkt der Bondmarkt-Revolte gegen die Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss:
FTSE 100
SMIM sendet Lebenszeichen
Auch der heimische SMI macht sich trotz Schwäche des Schwergewichts Nestlé auf in Richtung Allzeithöchst. Doch nicht nur das: Lebenszeichen sendet auch der SMIM, der die mittelgrossen Werte umfasst. Zwar notiert dieser noch ziemlich weit unter dem Höchst aus dem Jahr 2021, doch zumindest scheint es, als ob er seine seit fast drei Jahren bestehende Konsolidierung nach oben durchbrechen könnte (grosse grüne Kerze in der Grafik). Das wäre ein gutes Zeichen auch für andere europäische Mid-Cap-Indizes wie den MDax, die noch lustlos vor sich hin dümpeln. Was nicht ist, kann aber noch werden.
SMIM
All diese Beobachtungen zeigen in meinen Augen, dass Europa zurück ist, aus welchem Grund auch immer, und zwar quer durch den Kontinent. Mit dem Überwinden der Allzeithöchst stossen die wichtigsten Indizes buchstäblich in neue Gefilde vor und läuten so neue langfristige Aufwärtstrends ein, auch wenn es kurzfristig natürlich jederzeit zu Turbulenzen kommen kann. Noch eindeutiger wird dieses Signal, wenn auch die klein- und mittelkapitalisierten Werte auf den Zug aufspringen.
Zur aktuellen Lage fallen mir zwei Bonmots aus der markttechnischen Analyse ein: «An der Börse geht es darum, das Richtige zu tun, ohne zu wissen, warum es das Richtige ist», pflegt der langjährige Marktbeobachter Alfons Cortés zu sagen. Sollte die Hausse anhalten, werden die Gründe für Europas Stärke also noch nachgeliefert werden. Das zweite Bonmot besagt, dass das Potenzial umso grösser ist, je länger die Formationsperiode gedauert hat – im Original «The Longer the Base, the Higher the Space». Nach 25 Jahren Baisse könnte wie von Trump versprochen ein goldenes Zeitalter beginnen – womöglich allerdings eher in Europa als in den USA.
Freundlich grüsst im Namen von Mr Market
Gregor Mast