Die von Finanzmarktteilnehmern ersehnte Zinswende in der Euro-Zone ist da. Die Europäische Zentralbank reduziert ihre Leitzinssätze um 0,25 Prozentpunkte. Folgen nun bald noch weitere Zinssenkungen?
Alan Greenspan galt als Meister der unklaren Worte. Mit seinem legendären «Greenspeak» verwirrte der einstige Chef der US-Notenbank (1987 bis 2006) die Finanzmarktteilnehmer oft mehr als er ihnen über die künftige Geldpolitik verriet. Das war Absicht. Doch die Zeiten des Greenspeak sind genauso vorbei wie jene des heute 98-jährigen Greenspan. Die neue Generation der Geldpolitiker bereitet die Märkte punktgenau auf jeden Zinsschritt vor. Das galt auch für die heutige Zinssenkung und damit den Vollzug der Zinswende in der Euro-Zone.
Ständiger Ruf der Marktteilnehmer nach Zinssenkungen
Die Europäische Zentralbank (EZB) teilte am frühen Nachmittag mit, dass sie die drei Leitzinssätze um 0,25 Prozentpunkte reduziert. Damit notieren die beiden wichtigsten Zinssätze, der eigentliche Leitzins sowie der derzeit wichtigere Einlagensatz, nun bei 4,25 und 3,75 Prozent. An den Finanzmärkten rechnete man aufgrund der vielen Äusserungen von EZB-Verantwortlichen in den vergangenen Wochen fest mit dieser Entscheidung. Daher konnten sich alle Wertpapierhändler darauf einstellen – Überraschung ausgeschlossen.
Auf Grundlage einer aktualisierten Beurteilung der Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission sei es nun angemessen, den Grad der geldpolitischen Straffung zu reduzieren, hiess es von der EZB. Zudem seien die Inflationserwartungen für alle Zeithorizonte zurückgegangen. Die Ökonomen der Notenbank rechnen damit, dass die Teuerung bis weit ins nächste Jahr über dem EZB-Zielwert von mittelfristig 2 Prozent bleiben dürfte. Sie prognostizieren für das Jahr 2024 eine Inflationsrate von 2,5 Prozent, für 2025 von 2,2 Prozent und für 2026 von 1,9 Prozent.
Die SNB leitete zuerst die Zinswende ein
Der EZB-Rat hatte immerhin über Monate dem lauten Ruf der Finanzmärkte nach Zinssenkungen widerstanden. Das hat gut funktioniert, denn die Marktteilnehmer hatten ihre Erwartungen angepasst. Während Bankökonomen Ende 2023 für dieses Jahr im Durchschnitt noch Zinssenkungen über 1,6 Prozentpunkte prognostiziert hatten, waren es jüngst nur rund 0,6 Prozentpunkte, was zwei (bis drei) Zinsreduktionen um 0,25 Prozentpunkte entspricht. Als erste grössere Notenbank war die Schweizerische Nationalbank (SNB) am 21. März mit einem Zinsschritt vorangegangen, in dem sie den Leitzins von 1,75 auf 1,5 Prozent reduziert hatte.
Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde und ihr Chefökonom Philip Lane wollten vor der Einleitung der Zinswende in der Euro-Zone hingegen die neusten Lohn- und Inflationszahlen für Mai abwarten. Diese fielen dann jedoch nicht so günstig aus, wie es sich die Verantwortlichen erhofft haben dürften. Das hielt die EZB aber nicht davon ab, dennoch am Donnerstag die erste Zinsreduktion seit September 2019 zu wagen.
Im ersten Quartal sind die Tariflöhne in der Euro-Zone nochmals überraschend stark um 4,7 Prozent gestiegen, nach 4,3 Prozent im vierten Quartal. Dies zeigt den anhaltend hohen Lohndruck, der angesichts einer rekordtiefen Arbeitslosenquote im Euro-Raum nicht verwundern sollte und zu einer Verfestigung der Preissteigerungen beitragen dürfte.
Zugleich geht die Teuerung seit März nicht mehr zurück. Im Mai hat die Inflationsrate sogar wieder zugelegt. Angetrieben von den Dienstleistungspreisen kletterte die Teuerung von 2,4 auf 2,6 Prozent. Auch die Kerninflation legte zu, aus der die volatilen Preise für Energie, Lebensmittel, Alkohol und Tabak herausgerechnet werden. Notenbanker beachten die Kerninflation derzeit besonders, weil sie als Indiz für den in der Wirtschaft herrschenden Preisdruck gilt. Sie kletterte im Mai von 2,7 auf 2,9 Prozent. Damit liegen die wichtigsten Inflationsmasse weiter deutlich über dem Ziel der EZB von mittelfristig 2 Prozent.
Interessant bleibt die Frage, wie die EZB nach der ersten Zinsreduktion im zweiten Halbjahr fortfährt. Während manche Ratsmitglieder dem Vernehmen nach gerne gleich im Juli die nächste Zinsreduktion vornehmen würden, wollen sich andere deutlich mehr Zeit lassen. Auch an den Finanzmärkten gehen die Auffassungen über die weitere Entwicklung der Leitzinsen auseinander. Häufig wird die Meinung einer Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte pro Quartal artikuliert.
Starker Verlust der Kaufkraft wegen hoher Inflation
Die primäre und wichtigste Aufgabe der EZB ist die Sicherung der Preisstabilität, die sie mit einer Teuerung von 2 Prozent als erreicht ansieht. Dieses edle Ziel hat sie von der Gründung 1999 bis 2021 gut erreicht. Das wirtschaftliche Umfeld war in dieser Zeit allerdings oft günstig und half bei der Wahrung einer niedrigen Inflationsrate.
Dennoch hat sich die Kaufkraft von 1999 bis 2021 erheblich reduziert. Für einen Warenkorb, der 1999 zum Beispiel 100 Euro kostete, mussten Käufer 2021 schon 140 Euro bezahlen, rechnete jüngst der Geldpolitik-Experte Volker Wieland von der Goethe-Universität in Frankfurt vor. Durch die sehr hohe Geldentwertung der letzten beiden Jahre sprang der Preis bis heute auf 170 Euro. Diese Kaufkraft ist ohne Lohnsteigerungen verloren, der Wohlstand der Menschen ist gesunken.
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