Der 2015 gestürzte Fifa-Präsident publiziert das nächste Buch. Der 88-jährige Walliser ist in seiner Seele verletzt und lebt unvermindert den Drang nach Rechtfertigung. Besuch einer skurrilen Vernissage.
Er ist 88 Jahre alt geworden und nicht mehr der Conférencier von früher, aber immer noch ein Phänomen. Der «Daily Telegraph» bittet ihn zum Gespräch, ein dänisches Filmteam will von ihm wissen, wie nahe Grönland einst dran war, in die Weltfamilie des Fussballs aufgenommen zu werden; das Lokalfernsehen bittet ebenso zum Gespräch wie das Lokalradio.
Joseph Blatter, von 1998 bis 2015 Präsident des Weltfussballverbands Fifa, hält an einer Örtlichkeit in der Nähe der Zürcher Bahnhofstrasse Hof. Wieder wird ein Buch veröffentlicht. Mit «Overtime» ist es betitelt, versprochen wird die «wahre Geschichte». Blatter blickt weniger auf die Zeit an der Spitze der Fifa zurück als vielmehr auf das, was nach seinem Sturz 2015 folgte.
Rechtsverfahren, Anwürfe, Verteidigung, Vorladungen, Anwaltskosten, Aussprachen, Zeit für Musse, Wallis und Kleinfamilie, Momente der Reflexion – und gesundheitliche Rückschläge. Der Zusammenbruch im November 2015, das künstliche Koma und die Zeit auf der Intensivstation Ende 2020. Aber der zähe Blatter ist zurückgekommen, wie so oft in seinem Leben.
Blatter funktioniert sich vom Stürmer zum Verteidiger um
Der Oberwalliser war in jungen Jahren Fussballstürmer, als Funktionär habe er sich ins Mittelfeld zurückgezogen, um «das Spiel zu dirigieren», wie er verlauten lässt. Und am Lebensabend wird er zum Verteidiger seiner selbst.
Die durch das Buch entstehende Öffentlichkeit führt ihn unter anderem für einen Fototermin auf den Zürichberg, vor den Hauptsitz der Fifa, auch «Palast» genannt. Dort wehen zwar noch die Landesflaggen im Wind, doch sonst seien die Türen verschlossen, sagt Blatter, zumal für ihn, den von der Fifa mittlerweile Geächteten.
Er lässt zur Buchvernissage bitten, und die alte, vor allem männliche und weisshaarige Garde bleibt ihr nicht fern. Der Raum ist voll, die Temperatur steigt. Blatter erklärt sich, wie er das so oft getan hat. Zum Beispiel anlässlich des Neujahrsempfangs, den er zu Fifa-Zeiten hoch über Zürich ins Leben gerufen hat. Was für ein Unterschied zum Fifa-Chef und Blatter-Nachfolger Gianni Infantino, der sich wenig um sein Image hierzulande zu bemühen scheint und sich nur spärlich erklärt. Wenn überhaupt.
Zwischen der Fifa und Blatter tun sich Abgründe auf. Oder besser: zwischen den beiden Oberwallisern Blatter und Infantino. Da herrscht Polar-Kälte. Das wird deutlich, als am Ende der Buchvernissage Corinne Blatter gefragt wird, was sie ihrem Vater wünsche. Sie sagt mit eindringlichen Worten zu ihm: «Du musst erkennen, dass die heutige Fifa nie die Hand zu dir ausstrecken wird – nie, nie, nie.» Es klingt so, als wolle sie das Wort «nie» in den Kopf ihres Vaters hämmern.
Das Reinwaschen geht weit
Im Buch arbeitet sich Blatter über Gebühr an Infantino ab. Der Stachel sitzt tief. Dem Vernehmen nach prüften Anwälte einige Textpassagen. Infantino ist in diesem Weltbild der Böse, Blatter der Gute, der Verstossene. Doch das Reinwaschen geht weit, im Buch und in den Voten anlässlich der Vernissage. Bemerkenswert bleibt, dass vor der Justiz nichts an jener Person hängenbleibt, die über 40 Jahre im Dienst der Fifa gearbeitet und dabei 207 Länder bereist hat.
Im Zuge seines Sturzes vom Fifa-Thron haben sich einige Daten ins Gedächtnis Blatters gebrannt. Den 8. Juli 2022 bezeichnet er als «die grosse Wende». Damals wurden er und der frühere Uefa-Präsident Michel Platini vom Bundesstrafgericht in Bellinzona freigesprochen. Es ging dabei um eine dubiose Millionenzahlung von Blatter an Platini aus früheren Tagen, die wegen der durch die Sportjustiz verhängten Sperren beide Karrieren brach. Justiziables bleibt indessen nach wie vor nichts hängen.
Blatter ist wie Teflon. Er geniesst das Heimspiel der Buchvernissage. Der frühere Bundesrat Ueli Maurer lobt im Vorwort des Buches und auf dem Podium den langjährigen Fifa-Dirigenten in den Himmel und übt sich in jenem Register, das er seit seinem Rücktritt 2022 besonders pflegt: demjenigen der Medienschelte. «Alle Medien schreiben einander ab, nur in eine Richtung, und machen alles schlecht», sagt Maurer.
Klatschen im Publikum. So einfach ist das: allerhand ausblenden, Partei ergreifen – und auf die Medien einprügeln.
Es ist bemerkenswert, wie der Drang nach Rechtfertigung dazu führt, dass selbst Fragwürdiges weggedrückt wird. Dass sich die Fifa-Spitze während Jahren Millionen-Boni zugeschanzt hat, kann man als «Verrat am Fussball» bezeichnen. Aber vielleicht verhielt sie sich im schwerreichen Selbstbedienungsladen Fifa einfach nur geschickt. Im Blatter-Buch steht, dass sich die Boni-Frage mittlerweile erübrigt habe.
Wie bitte?
Im Dezember 2010 hielten sich der Fifa-Präsident Blatter, der Generalsekretär Jérôme Valcke und der Finanzchef Markus Kattner Millionenzahlungen zu, alles rechtens, weil durch gegenseitige Unterschriften abgesichert. Man spricht heute noch vom «System Valcke». Blatter erhielt 11 Millionen Schweizerfranken, Valcke 9 und Kattner 3. Das waren die Boni für die Fussball-WM in Südafrika. Einfach so. Es folgten später weitere Millionenzahlungen.
Darüber spricht die Blatter-Fangemeinde 2024 natürlich nicht. 2016 sagte Blatter der «NZZ am Sonntag» zu den WM-Boni: «Ich habe das Unternehmen von null bis weiss nicht wo hochgebracht. Zudem sind die Zahlen irreführend. Es ist stillos, wie das publiziert worden ist.» 2019 entgegnete er der NZZ im Vieraugengespräch auf die Warum-Frage mit leisen Worten: «Ich hätte das Geld nicht nehmen sollen.» Valcke konstruierte geschickt, Blatter trug mit. Die Funktionärskaste der Fifa fühlte sich unantastbar. Und Geld war und ist in rauen Mengen vorhanden. Bedient euch.
Offensichtlich wurde nicht alles «nur für den Füessball» getan, wie sich Blatter im Walliser Idiom auszudrücken pflegt. Auch Platini kennt das vermeintliche Gefühl der Unantastbarkeit, wenngleich der bisweilen überforderten Justiz am Ende nur noch der Freispruch blieb.
Blatter bleibt die späte Genugtuung
Die WM-Boni und die Tatsache, dass der Schirmherr Blatter im von Korruption durchseuchten, auf der ganzen Welt verzweigten Fifa-System geschickt navigiert hat, ändern nichts daran, dass der Walliser ein schönes Stück Genugtuung erhalten hat. Und dies, nachdem die letzten Jahre wie «eine einzige lange Tortur» gewesen seien, woran er hätte «kaputtgehen» können, wie er im Buch schreiben lässt.
Doch jetzt ist Zeit für Huldigungen. Maurer schwebt. Der Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann sagt ins Mikrofon, dass Blatter «vielleicht der grösste Sportfunktionär ist, den wir je hatten». Der 85-jährige Erich Vogel, die graue Eminenz des Schweizer Fussballs, spricht vor Blatter vom «Machiavelli des 21. Jahrhunderts», von korrupten Zuständen und korrupten Personen in der Fifa und vom Umstand, dass «du da heil herausgekommen bist». Heil?
Der Medienmann Roger Schawinski nennt Blatter auf dem Podium einen «Menschenfänger, der Medienschaffende mit Walliser Weisswein und einem WM-Ball reingezogen hat». Der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger streut nebst Superlativen («Ober-Ballerina der Macht», «Weltarena-Moderator», «Kaiser Sepp») Grautöne ein, indem er die «Fifa-Kollateralschäden» nennt.
Nicht ganz alles ist einfach vorbei und vergessen. Selbst inmitten der etwas alt wirkenden Fangemeinde nicht.