Andreas Wimmer, Soziologieprofessor an der Columbia University, kritisiert, dass an amerikanischen Spitzenuniversitäten viel zu stark über «Rasse» und Geschlecht diskutiert werde. Die Folgen der wirtschaftlichen Ungleichheit würden ausgeblendet.
Herr Wimmer, Sie sind Schweizer und leben und lehren seit zwanzig Jahren in den USA. Gibt es etwas, das Sie immer noch irritiert?
Ja – wie selbstverständlich sowohl im Alltag wie auch in der Wissenschaft von «race» die Rede ist. Die meisten Amerikaner erachten es als legitim oder sehen es sogar als moralisches Erfordernis, die Gesellschaft in rassische Gruppen zu unterteilen. Beispielsweise bei Volkszählungen: Als ich das erste Mal den Fragebogen erhielt, waren meine damalige Frau – nach amerikanischem Verständnis eine «schwarze» Person – und ich schockiert. Alles, was der Staat von uns wissen wollte, waren «Rasse», Alter, Geschlecht – nicht Bildungsstand, Einkommen, Geburtsort, Staatsbürgerschaft oder Ähnliches. Die Fixierung auf «Rasse» findet man durch das ganze politische Spektrum von rechts bis links und sowohl unter «Weissen» wie «Schwarzen» oder «Asiaten».
Zur Person
Andreas Wimmer
Andreas Wimmer, geboren 1962 in Schaffhausen, ist der Lieber Professor of Sociology and Political Philosophy an der Columbia University in New York, die zu den renommierten Ivy-League-Universitäten gehört. Er hat an der Universität Zürich Ethnologie und Soziologie studiert. Seine Forschung untersucht aus vergleichender und historischer Perspektive ethnische Konflikte und Bürgerkriege, Staats- und Nationenbildung, Prozesse der ethnischen Grenzziehung und kulturelle Diffusion. Sein letztes Buch ist «Nation Building. Why Some Countries Come Together While Others Fall Apart».
Sie sind Professor an der Columbia University in New York. Ist es wirklich so, wie man sich das aus europäischer Sicht vorstellt – dass es genügt, eine unkorrekte Bemerkung über Schwarze oder Schwule zu machen, und man ist draussen?
Man hat nicht unbedingt Angst vor Entlassung, Canceling oder Shitstorms, denn die sind eher selten. Aber man wird gemieden oder gemobbt wegen unpassender Äusserungen, und deshalb übt man sich in Selbstzensur. Es wäre zum Beispiel fatal, sich gegen Affirmative Action, also die bevorzugte Zulassung von Nichtweissen, auszusprechen. Die Konsequenz wäre, dass sich die Kollegen an den einschlägigen Konferenzen oder Treffen von einem abwenden, wenn man auf sie zugeht. Eine Art sozialer Tod. Die Eliteuniversitäten sind zu 99,5 Prozent links orientiert, und als progressiv gilt alles, was sich um Identitäten dreht, also «Rassen», Ethnien, Gender, LGBTQ. Höchstens ein paar Ökonomen scheren aus. Und durch Selbstzensur wird das Milieu immer noch homogener, gerade auch als Gegenreaktion auf die brachialen Versuche von rechts, die Universitäten per Verbot von diesem Kurs abzubringen, so wie derzeit in Florida und anderswo.
Es gibt viel Polemik rund um die amerikanischen Spitzenuniversitäten, vor allem auch seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober, aber wenig sachliche Analysen, die die Entwicklungen in einen grösseren Kontext einordnen. Wie würden Sie aus sozialwissenschaftlicher Sicht beschreiben, was da gerade passiert?
Auf die Gefahr hin, akademisch und abstrakt zu klingen, würde ich von der soziologischen Grundannahme ausgehen, dass moderne Gesellschaften aus Teilsystemen bestehen, die relativ autonom funktionieren. Die Wissenschaft, zu der auch die Universitäten gehören, ist ein solches eigenständiges Universum, in dem man der Frage nachgeht, was wahr ist und was nicht. Ein anderes Teilsystem ist die Politik, bei der es um Macht geht und um Fragen wie: Wer ist mit uns, wer ist gegen uns? Seit etwa zwanzig Jahren wird diese Trennwand jedoch durchlöchert; immer mehr beeinflussen Fragestellungen, die eigentlich zur Politik gehören, die Wissenschaft.
Wie äussert sich diese Politisierung konkret?
Es gibt drei wissenschaftsfremde Kriterien, die das Ideal des universalistischen, wertfreien Diskurses bedrohen. Erstens wird bei der Planung von Untersuchungen und bei der Analyse der Resultate sofort gefragt, ob diese aus linksprogressiver, identitätspolitischer Sicht wünschenswert seien – und entsprechend gefiltert. Zweitens kommt es nicht mehr nur darauf an, was gesagt wird, sondern wer etwas sagt und wie viel Prestige die Sprechenden haben. Die Aussagen von Frauen oder von Nichtweissen, in Amerika People of Color genannt, haben heute in diesem Umfeld ein grösseres moralisches Gewicht. Drittens ist die Resonanz der Wissenschaft in der Öffentlichkeit immer wichtiger. Es wird erwartet, dass Forschungsresultate dazu beitragen, dass die linksprogressiven Kräfte des Guten über die rechtspopulistischen Kräfte des Bösen siegen.
Kann man historisch erklären, wie es zu dieser Situation gekommen ist?
Es gab drei entscheidende Entwicklungsstränge. Der erste war die Bürgerrechtsbewegung. Sie entwickelte sich nach der Ermordung von Martin Luther King weg vom liberalen, Individuum-zentrierten, meritokratischen Denken hin zum Gruppendenken, weg von der Chancen- hin zur Ergebnisgleichheit. Das heisst, es ging dann vor allem darum, welche Gruppe im Resultat wie viel kriegt, und nicht mehr um mehr Gerechtigkeit bei den Verteilungsmechanismen. Der zweite Strang war der Feminismus, der eine ähnliche Wendung zum Gruppendenken nahm: Vorrangig war nicht mehr das Ausräumen von Benachteiligungen von Frauen, sondern die Verteilung von Machtpositionen, unabhängig davon, wie diese tatsächlich zustande kommt. Die Idee dahinter: Solange es kein Fifty-fifty gibt, muss Frauendiskriminierung im Spiel sein. Drittens passierte etwas Ähnliches dann auch mit der LGBTQ-Bewegung. Diese drei Entwicklungen laufen heute zusammen, haben sich in den Universitäten institutionalisiert und bilden das, was Yascha Mounk in seinem Buch «Im Zeitalter der Identität» die Identitätsfalle nennt. Laut diesem Denken sind die wesentlichen Kategorien, mit denen man heute Gesellschaft verstehen muss, Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung.
Dabei gehen zum Beispiel wirtschaftliche Kriterien vergessen.
Ja, die Aspekte Einkommen, Vermögen und die Verteilung von Bildungschancen sind für das Verständnis der USA zentral. Wenn man Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft untersuchen will, ist das wichtigste Kriterium immer noch die Schichtzugehörigkeit, also Klasse, und nicht Rasse oder Geschlecht. Es sind bezeichnenderweise vor allem schwarze Forscher, die auf diesem Punkt insistieren, zum Beispiel der Politologe Adolph Reed aus marxistischer Sicht oder aus liberaler Perspektive der Soziologe William Wilson. Denn einerseits ist es für weisse Akademiker politisch gefährlich, sich dem herrschenden Rasse-Diskurs entgegenzustellen, andererseits ist es für afroamerikanische Forscher frustrierend, dauernd bloss als Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung auftreten zu müssen. Es ist auch eine Entwertung ihrer Individualität und ihrer eigenen Leistung, wie der Linguist John McWorther in seinem Buch «Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet» betont.
Inwiefern ist die Klassenzugehörigkeit das wichtigste Kriterium?
In den letzten dreissig Jahren hat die Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft massiv zugenommen. Die soziale Mobilität, also die Chance, dass jemand aus der Unterschicht in die Mittel- oder Oberschicht aufsteigt, hat sich reduziert. Die Bildungsungleichheit zwischen Schwarz und Weiss ist zurückgegangen, jene zwischen Armen und Vermögenden hat jedoch zugenommen. Die USA stehen hier viel schlechter da als zum Beispiel die Schweiz, trotz dem Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Die Schichten driften auseinander und nehmen immer mehr kastenähnliche Züge an. Besonders fatal ist, dass sich das auch über mehrere Generationen kaum ändert. Diese Stagnation oder sogar der soziale Abstieg ganzer Bevölkerungsgruppen ist auch ein Grund für den Erfolg der Rechtspopulisten.
Die Diskussion um Identitäten verdeckt also diese harten, ökonomischen Fakten?
Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und sich überlegen, ob das nicht genau die Funktion dieser Diskurse ist. In dem Moment, wo zum Beispiel Amazon mit Millionen Dollar ein Institut für «racial justice» sponsert, aber gleichzeitig aufkeimende Gewerkschaftsbewegungen resolut unterdrückt, fragt man sich schon, ob das nicht zusammenhängt. Es sind ja die Eliten, die von der zunehmenden Ungleichheit profitieren. Es nützt ihnen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit stattdessen auf die Themen sexuelle Ausrichtung, Gender und Hautfarbe gelenkt wird statt auf die Machtkonzentration.
Klingt das jetzt nicht ein wenig nach Verschwörungstheorie?
Ich offeriere es als Hypothese. Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich lässt sich aber empirisch klar belegen. Und es gibt auch eindeutige politische Verschiebungen: Die Demokraten sind immer mehr zur Partei der Gebildeten geworden, denen identitätspolitische Fragen am Herzen liegen, während die Arbeiter zu den Republikanern wanderten. Dasselbe in den Medien. Linksliberale Zeitungen wie die «New York Times» widmen Fragen der Identität viel mehr Platz als der sozialen Ungleichheit. Auf den Lebensstil-Seiten der «Times» gibt es dann nützliche Tipps, welche Megaluxushotels oder Privatklubs derzeit bei New Yorkern in Mode sind.
Und was ist denn die gesellschaftliche Funktion der Universitäten in diesen ganzen Auseinandersetzungen?
Soziologisch betrachtet ist die Aufgabe der Spitzenuniversitäten die Reproduktion der Eliten. Die meisten unserer Studenten kommen aus vermögendem Elternhaus, und später werden sie selbst Elitepositionen einnehmen. Eine Funktion der sogenannt «woken» Diskurse ist auch die Abgrenzung nach «unten», also gegenüber den ungebildeten, angeblich undifferenzierten, rassistischen, homophoben, von Rechtspopulisten verblendeten Massen. Wer die neue, komplizierte Sprache rund um Inklusion und Diversität beherrscht, beweist, dass er dazugehört; es ist ein Distinktionsmerkmal, mit dem sich die Bildungselite legitimiert und mit dem man sich erst noch moralisch besser fühlt als der Rest. Und innerhalb der Universität können die Diversitäts-Schlagwörter auch als Waffe im Verteilkampf eingesetzt werden.
Das heisst, entgegen dem Anschein und dem Anspruch ist das eine Diskussion innerhalb der Elite, die wenig mit den tatsächlich ausgegrenzten und unterdrückten Opfern zu tun hat?
Richtig. Denn was für die Gesellschaft als Ganzes gilt, gilt erst recht für die Ivy-League-Universitäten: Es ist sehr selten, dass es jemand aus der Unterschicht bis nach Harvard schafft, trotz Affirmative Action. Die Schulen der armen, afroamerikanischen Quartiere in den grossen Städten sind so schlecht, dass man schon Glück hat, wenn man es von dort überhaupt an irgendein College schafft. Die schwarzen Studenten an den Eliteuniversitäten verbindet mehr mit ihren weissen Oberschichtskommilitonen als mit ihren «schwarzen Brüdern» in den Armenvierteln, die diese Auseinandersetzungen wenig angehen. Das wird mit den identitätspolitischen, angeblich inklusiven Diskursen verschleiert.
Aber der Hinweis auf die schlechten Schulen zeigt, dass die Hautfarbe schon auch eine reale Rolle in der Gesellschaft spielt.
Klar. Es gibt institutionelle Formen von Diskriminierung, welche die Ungleichheit entlang «rassischer» Linien zementieren, beispielsweise im Justizwesen. Auch das ganze Schulsystem ist darauf aufgebaut – mit der Segregation entlang Rassenlinien in den Städten, mit der Unterfinanzierung von öffentlichen Schulen, mit dem Ausklinken der mehrheitlich weissen und asiatischen oberen Mittelschicht aus dem öffentlichen Schulsystem, nachdem der Supreme Court 1954 die Segregation an den öffentlichen Schulen endlich verboten hatte. Es ist nicht immer einfach, den Rassen- und den Klassenaspekt auseinanderzudividieren, aber alle Analysen nur auf Hautfarbe zu reduzieren und alle Ungleichheiten dem Rassismus zuzuschreiben, ist ebenso falsch wie der Klassenreduktionismus.
Was ist denn eigentlich mit den asiatischen Einwanderern und ihren Nachkommen?
Sie erlebten und erleben ebenfalls Entwertung und Diskriminierung, trotzdem sind sie überaus erfolgreich. Da muss man sich fragen, ob vielleicht die rassistischen Zuschreibungen gar nicht immer so entscheidend sind, wie das die «critical race theory» suggeriert, oder zumindest untersuchen, unter welchen Bedingungen sie es sind. Und wir müssen andere Gründe für die schlechte Lage der Afroamerikaner ins Blickfeld bringen, die nicht auf rassistische Diskriminierung reduzierbar sind. Heute ist es heikel, solche Fragen sachlich zu diskutieren. Wir müssen uns den Freiraum, wo Empirie und Argumente zählen, wieder erkämpfen.