In seiner kurzen Künstlerkarriere entwickelte sich der österreichische Maler vom selbstbezogenen Exzentriker zum einfühlsamen Visionär.
Wally war nicht die Frau, die man heiratet. Das galt selbst für einen Lebemann und unkonventionellen Künstler wie Egon Schiele. Die langjährige Freundin war sozusagen seine Managerin, seine Sekretärin und Vermittlerin seiner Werke – was wäre Schiele ohne sie gewesen. Trotzdem sollte er sich von ihr abwenden.
Wally Neuzil stammte aus einfachsten Verhältnissen. Durch den frühen Tod ihres Vaters wurde ihre Familie mittellos. Sie war noch minderjährig, als sie Schieles wichtigstes Modell wurde. Sie war seine Muse und Lebensgefährtin. Die beiden lebten in wilder Ehe. Er zeichnete sie unzählige Male in expliziten Posen. Auch Schiele verlor seinen Vater früh. Ein Grund, warum er sich mit Wally durchaus identifiziert haben könnte.
Schiele befand sich gerade inmitten seiner kaum mehr als zehn Jahre währenden Künstlerkarriere. Es war für ihn eine Zeit des Umbruchs. Eine Rolle spielte auch die traumatische Erfahrung im Gefängnis. Schiele kam wegen eines Sittlichkeitsvergehens hinter Gitter. In seiner Wohnung, in der regelmässig auch Minderjährige zu Besuch waren, hing die Aktzeichnung eines Mädchens an der Wand.
Loyal zur Seite stand ihm allein Wally. Sie besuchte ihn im Gefängnis, sie war seine geistige Verbündete. Egon Schiele galt damals nicht als Künstler, sondern stand als Pornograf unter Beobachtung. Eines seiner bekanntesten Selbstporträts zeigt ihn bei der Masturbation. «Auch das erotische Kunstwerk hat Heiligkeit!», erklärte er. Seine Berufung erachtete Schiele als spirituelle Aufgabe.
Ihm dämmerte allerdings, dass er auf die Befindlichkeiten der Gesellschaft mehr Rücksicht zu nehmen hatte, wollte er als Künstler bestehen. Bis anhin hielt er wenig von den Anforderungen bürgerlicher Anständigkeit. Er war ein Exzentriker und freiheitsliebender Bohémien, der sich in gnadenlos kritischen Selbstporträts obduzierte. Der junge Schiele befasste sich intensiv mit der Suche nach seiner persönlichen, auch sexuellen Identität.
Die Nabelschau seiner Anfänge wurde in seinen letzten Jahren, bevor er mit nur 28 an den Folgen der Spanischen Grippe starb, durch ein ganz neues Selbstbild abgelöst. Das zeigt sich auch in seiner Technik. Schiele fand von einem erst kantigen und sprunghaften zu einem immer weicheren Strich. Die Linienführung wurde organischer und beruhigter, die Körperdarstellung plastischer. Alles tendierte sukzessive zu einer realistischeren, auch naturalistischeren Darstellungsweise. Das ist jetzt in der Wiener Ausstellung «Zeiten des Umbruchs – Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918» im Leopold-Museum zu sehen.
Die Ehe
Das Doppelporträt «Entschwebung (Die Blinden II)» markiert einen Wendepunkt. Darin werden seine neue Selbstwahrnehmung und das gewandelte Verständnis über seine Rolle in der Welt sichtbar. Als Künstler verstand sich Schiele stets als Seher, als Visionär, der dazu bestimmt war, die unwissende Öffentlichkeit ins Licht zu führen. In diesem Werk stellt er sich allerdings zweifach als Blinder dar, mit gläsernen, opaken Augen.
Die New Yorker Schiele-Spezialistin Jane Kallir findet dafür eine Erklärung. Das Bild bedeute den Abschied Schieles von seiner jugendlichen Seelenforschung und narzisstischen Selbstbezogenheit der Frühzeit. Kallir, deren Grossvater Otto Kallir in den dreissiger Jahren den ersten Catalogue Raisonné zu Schieles Werk verfasste, ist die Co-Kuratorin der Wiener Ausstellung. Sie hat auch eine These bezüglich Schieles Abwendung von Wally.
Im Entstehungsjahr 1915 des bedeutungsvollen Selbstporträts strebte Schiele gefestigtere Lebensverhältnisse an. «Ich habe vor zu heiraten, – günstigst, nicht Wally vielleicht.» Gemäss Jane Kallir besagt Schieles Postkarten-Notiz an seinen Förderer, den Wiener Kunstkritiker Arthur Roessler, alles. Zwar sei Wally in vieler Hinsicht die perfekte Partnerin für Schiele gewesen: «Der Grund für seinen Entschluss aber steckt in dem Wort ‹günstigst› verborgen.» Wenn es zu Überlegungen bezüglich des ehelichen Standes kam, betrachtete sich Schiele nämlich als Teil des Bürgertums.
Egon Schiele: «Sitzende Frau mit hochgezogenem Knie», 1917, Bleistift, Gouache auf Papier; «Liebesakt», 1915, Bleistift, Gouache auf Papier.
Wally aber war in der Wiener Gesellschaft nicht mehr als das «süsse Mädel», wie es Arthur Schnitzler in seinem Bühnenerfolg «Liebelei» schilderte: die Idealvorstellung einer sexuell leicht zugänglichen Frau von einfachem Stand – eine männliche Fantasie, wie sie charakteristisch war für das Wiener Fin de Siècle. Damals kam eine junge Frau, die sich in Künstlerateliers entkleidet, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, einer Prostituierten gleich.
Er brach mit Wally. Die Auserwählte war Edith Harms, das schüchterne Mädchen von nebenan. «Schiele heiratete keine Psyche», schreibt die Kunsthistorikerin Alessandra Comini im Ausstellungskatalog: «Er heiratete mit Bedacht eine Fassade: nicht Wally, die Bohémienne, sondern Edith, die Verkörperung der Kleinbürgerin.»
Die damit einhergehende Selbstverleugnung schlägt sich unmittelbar in Schieles Zeichnungen von Liebespaaren aus jener Zeit nieder, davon ist die Co-Kuratorin Kerstin Jesse überzeugt. In diesen Blättern stellt sich Schiele wiederholt bei der Ausführung des Liebesakts mit einer nicht genauer zu identifizierenden Frau dar – ist es Edith?
Die leeren Blicke der ineinander verschlungenen Liebenden sprechen von emotionaler Distanz. Die Pupillen sind nur mehr winzige Punkte in weit offen stehenden Augen. Manchmal fehlen sie ganz. Der Visionär Schiele scheint mit Blindheit geschlagen zu sein.
In diesen Blättern dürfte seine Ahnung zum Ausdruck kommen, dass die Einwilligung in eine bürgerliche Ehe für ihn ein Stück weit auch Selbstaufgabe bedeutete. Das emotionslose Starren des Künstlers könnte allerdings auch damit zu erklären sein, dass Schiele diese Zeichnungen angefertigt hat, währenddessen er mit einer Frau vor einem Spiegel Sex hatte.
Unverständnis und Einsamkeit
Edith war konservativ. Sie mochte nur ungern für Schiele nackt posieren. Auch, weil seine erotischen Arbeiten – ganz im Gegensatz zu Klimts Aktzeichnungen, die dieser stets bei sich behielt – für den Verkauf bestimmt waren. Edith wollte sich von bekannten Wiener Kunstsammlern nicht wiedererkannt sehen. Ein einziges Blatt allerdings könnte seine Ehefrau kaum offenherziger zeigen. In dem Werk «Liegende Entblösste» von 1916 ist Edith mit weit gespreizten Beinen wiedergegeben.
Egon Schiele und Edith heirateten 1915. Die Flitterwochen verbrachten sie während dreier Tage in Prag. Dort erfolgte auch Schieles Einberufung. Es war der Beginn des Ersten Weltkriegs. Schiele liess Edith zurück in einem Prager Hotelzimmer, ohne Geld und völlig auf sich allein gestellt, zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben. Schiele riet ihr, mit seiner Zeichenmappe bei Prager Sammlern hausieren zu gehen und hinterliess ihr eine Liste mit Namen.
Edith Schieles erstmals zur Wiener Ausstellung veröffentlichtes Tagebuch gibt tiefe Einblicke in ihr oft von Einsamkeit, Entfremdung und Unverständnis begleitetes Eheleben: «Hätte ich nicht dies Buch, ich wäre schon längst verrückt.»
Schiele hat Edith als introvertierte, schüchterne Person wiedergegeben. Ihre blauen Augen hingegen sprechen Bände. Der Blick ist oft schwer von Melancholie, wenn nicht Traurigkeit und Depression. «Ich bin derart nervenkrank, dass mich mein Körper furchtbar schmerzt, ich weine stundenlang, quäle mich mit irgendwelchen Gedanken . . .»
Edith Schiele stammte aus gut behüteten Verhältnissen. Ihr war es nie gelungen, Teil von Schieles künstlerischem Leben zu werden, wie das für Wally der Fall gewesen war. Wenn Schiele seiner Gemahlin als Ehemann auch nicht geben konnte, was sie benötigte: Als Künstler hatte er sie in ihrer ganzen Person erfasst.
Egon Schiele: «Selbstbildnis in Uniform», 1916, Bleistift auf Papier; «Russischer Soldat», 1916, Bleistift, Gouache auf Papier.
Kriegserfahrung
Der Militärdienst bedeutete für Egon Schiele eine neue Herausforderung. Er musste russische Soldaten in Gefangenschaft eskortieren. Und begann, sich mit diesen zu unterhalten, sich für deren Schicksale und Kriegserlebnisse zu interessieren, und porträtierte sie dabei. «Welche Qualen der Krieg der Freiheit und den fühlenden Menschen bringt, ist vielleicht am erbärmlichsten», notierte er im August 1915 in sein Kriegstagebuch.
Durch diese Erfahrungen wurde der blinde Narziss zum emphatischen Seher. Seine bis anhin nur wenig bekannten Porträts melancholischer Gesichter von jungen russischen Männern in k. u. k. Kriegsgefangenschaft sind etwas vom Berührendsten, was Schiele geschaffen hat. Kaum hat er jemals zuvor so tief und mit so viel Einfühlungsvermögen in Menschengesichter geblickt.
In diesen Bildern ist Schiele zur Reife eines erwachsenen Mannes gelangt. Das aber änderte nichts an der grossen Anziehungskraft, die die Frauen auf ihn ausübten. Sie nahmen zeitlebens und bis zu seinem frühen Ende den breitesten Raum in seinem Schaffen ein. Ein Meisterwerk seiner letzten Jahre ist die berühmte kolorierte Zeichnung «Sitzende Frau mit hochgezogenem Knie». Sie hat rotblondes Haar. Wie Edith. Aber auch wie Wally.
«Zeiten des Umbruchs – Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918», Leopold-Museum, Wien, bis 13. Juli. Katalog: 39.90 Euro.