Nach den personalisierten Tickets lehnen die Schweizer Fussballklubs jetzt auch die Schliessung von Stadionsektoren ab. Sie setzen auf den Dialog mit den Fans und fordern die Staatsgewalt zu härterem Vorgehen auf.
Überall in Schweizer Fussballstadien entrollen die Fankurven Transparente: «Fans, Verein und Liga geschlossen gegen das Kaskadenmodell», steht da. Auf Deutsch, auf Französisch. Und darunter: «Auf Kollektivstrafen folgen kollektive Antworten.» So zu sehen am Wochenende im Spiel zwischen dem FC Luzern und dem Servette FC (2:2), in Zürich, in Basel.
In Luzern läuft im Publikum mit 11 800 Personen alles in gewohntem Rahmen ab. Die Servette-Fans verzichten auf Fackeln und Feuerwerk, das sie unlängst am Cup-Spiel in Delsberg vor den Augen der Verbandsspitze im Übermass gezündet haben, als wäre Silvester und 1. August. So unterschiedlich können Momentaufnahmen in Schweizer Stadien sein.
Während die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) am seit Monaten verhandelten Kaskadenmodell festhält, wird dieses von den Fans abgelehnt. Das ist nicht neu. Neu ist, dass sich auch die Liga und die 22 Profiklubs dagegenstellen. Wobei: Vor allem die Super League stellt sich quer, in der davon weniger betroffenen Challenge League wird das Veto abgenickt.
Wie unerwartet die Fussballgewalt hereinbrechen kann, zeigen die Ausschreitungen am Challenge-League-Spiel am Samstag zwischen Aarau und Baden (2:0). Über 7000 Personen sind zugegen, es kommt ausserhalb des Brügglifelds zu Sachbeschädigungen und zu einem Polizeieinsatz. Im Stadion verzögert sich der Spielbeginn wegen starken Pyro-Rauchs um mehrere Minuten.
2023 trug der Fussball das Kaskadenmodell mit
Die neue Dynamik spitzte sich in der letzten Woche zu, als der Schweizer Fussball aus einem Projekt ausscherte, das er 2023 mitgetragen hatte. Das Kaskadenmodell sieht je nach Schwere von Gewalttaten Massnahmen vor – wie etwa die Sperren von Stadionsektoren. Solche verfügten die Behörden in den letzten Monaten nach Vorfällen mehrfach.
Dies und mangelhafte Kommunikation zog in Fussballkreisen schnell Bedenken nach sich. Zudem zeigte sich, dass die Massnahme Probleme verlagert. Ausgeschlossene Fans besorgten sich Billette für andere Stadionbereiche. In einem Communiqué schreibt die Fanarbeit im Namen der grössten Schweizer Klubs: «Spieltage mit Kollektivmassnahmen haben zu einer Verschlechterung der allgemeinen Sicherheitslage auf der Anreise und im Stadion geführt, dies bei Mehraufwand aller Beteiligten und gänzlicher Planungsunsicherheit.»
Die Klubs und die Liga stossen in dieselbe Richtung: keine Kausalhaftung, keine Kollektivstrafen. Wie die Fanarbeit setzen sie auf den Dialog, die sogenannten Stadionallianzen und auf die situative Lagebeurteilung diverser Akteure.
Wie St. Gallen eine brenzlige Situation entschärfte
Wenn sich Matthias Hüppi, der Präsident des FC St. Gallen, «in fast jedem Referat» zur Gewaltproblematik erklären muss, redet er auch über positive Erfahrungen, «die leider zu wenig Erwähnung finden». Als der FC Zürich Ende 2023 mit seinem wachsenden Anhang in St. Gallen spielte, wurde es bei einem Eingang brenzlig. 1900 Gästefans standen bereits im vollen Gastsektor, draussen warteten aber noch deren 200 auf den Einlass. Es gelang, diese Personen in den sogenannten Pufferzonen am Rand des Sektors unterzubringen.
Reden, nicht sperren. Schon seit Jahren wird geredet. Mit mässigem Erfolg. Der YB-CEO Wanja Greuel bringt für jene Leute Verständnis auf, die sich ob des Clashs zwischen Behörden und dem Fussball enervieren. Doch er sagt: «Die Sektorensperre erhöht das Risiko und in gewissen Fankreisen die Frustration – und sie verschiebt das Problem in andere Sektoren.»
Zudem stellen sich rechtliche Fragen. Im Zuge der Ausschreitungen nach dem Match gegen Basel Ende 2023 beim Bahnhof in Altstetten schloss die Zürcher Bewilligungsbehörde den FCZ-Fan-Sektor für das Spiel gegen Lausanne-Sport. Das heisst: Weil es weit vom Stadion entfernt zwischen Gewalttätern und der Polizei zu Auseinandersetzungen kam, werden ein paar tausend Unbeteiligte bestraft.
Der FC Zürich lässt nun gerichtlich die Rechtmässigkeit der Sektorenschliessung prüfen. Es geht dabei nicht nur um Haftungs- und Kausalzusammenhänge und nicht nur darum, ob die Kollektivbestrafung rechtens ist, sondern auch um das Recht der Wirtschaftsfreiheit. Wahrscheinlich wird das Zürcher Verwaltungsgericht über die Fragen ein erstes Urteil fällen. Der gerichtliche Entscheid dazu könnte wegweisend sein.
Die Tatorte befinden sich oft ausserhalb des Stadions. Das lenkt den Fokus auf die Staatsgewalt. Die Haltung der Klubchefs: rigorose Einzeltäterverfolgung. «Rigoroses Eingreifen der Polizei, wie teilweise im Ausland», ist aus Klubkreisen zu hören. Christian Constantin, der Präsident des FC Sion, spricht von «Dringlichkeitsrecht».
Der FCZ-Präsident Ancillo Canepa schreibt in der letzten Matchzeitung: «Gewalttätige Einzelpersonen müssen im Rahmen der Einzeltäterverfolgung durch die zuständigen Behörden identifiziert und bestraft werden.» Dem Funktionär eines anderen Vereins leuchtet nicht ein, weshalb die Polizei oft nicht in der Lage sei, ausserhalb der Stadien ein paar Schläger zu isolieren und festzunehmen. Das hört sich gut an. Nur erweckt der Ruf nach der Polizei mitunter den Eindruck, als wollten sich die Klubs aus der Verantwortung stehlen. Und: Greifen die Sicherheitskräfte hart durch, laufen zuvorderst Fankreise mit der beliebten Begründung «Unverhältnismässigkeit» dagegen Sturm.
Die Stadt Zürich hält an Sektorensperren fest
Während die Fussballgemeinde das Kaskadenmodell ablehnt, hält die Staatsgewalt daran fest. Die Stadtzürcher Sicherheitsdirektorin Karin Rykart (Grüne) sagt: «Die Bewilligungsbehörden haben beschlossen, es auf die nächste Saison hin einzuführen. Bis dahin werde ich bei Vorfällen mit Gewalt gestützt auf das Hooligan-Konkordat situativ prüfen, ob Massnahmen getroffen werden.»
Rykart hebt die schweizweite Vereinheitlichung des Modells hervor und die Transparenz – «auch gegenüber den Klubs. Wir erhoffen uns eine präventive Wirkung gegen Gewalt und Ausschreitungen. Es ist ein klares Signal. Die Gewalttäter sollen dazu bewegt werden, ihr Verhalten zu ändern.»
Dialog? Sektorensperre? Repressivere Polizei? Die Komplexität der Gewalt meist junger und meist männlicher Fans bringt Überforderung und Ohnmacht mit sich. «Die Behörden haben die Macht. Sie können verordnen, was sie wollen», sagt Constantin. Hüppi überlegt sich derweil, wie in St. Gallen mit dem geschlossenen Gastsektor im Spiel vom 1. April gegen Luzern umzugehen ist. Und Canepa wartet auf einen Gerichtsentscheid. Die Hoffnung auf Besserung stirbt zuletzt.