Die Sprachmodelle des Pariser Startups Mistral können mit jenen von Open AI mithalten. Und andere stehen in der französischen Hauptstadt bereits in den Startlöchern.
Ein KI-Sommelier von Moët Hennessy hilft bei der Weinauswahl. Bulgari nutzt künstliche Intelligenz, um Besucher an die Düfte des Unternehmens heranzuführen. Und bei L’Oréal kann man seine Haare von einem Gerät einscannen lassen, das aussieht wie ein kleiner Föhn, um von einer KI zu erfahren, welche Farbtöne darin enthalten sind.
Was dabei herauskommt, wenn künstliche Intelligenz auf menschliche Leidenschaften wie Kulinarik, Luxus und Schönheit trifft, konnte man vor einigen Tagen auf der Messe Viva Technology, kurz «Vivatech», in Paris beobachten. Die französische Hauptstadt präsentierte sich dort nicht nur als Ziel für Modebewusste und Geniesser, sondern auch als Hochburg für moderne Technologie. Für die Messe, die grösste ihrer Art in Europa, war es ein neues Rekordjahr: 165 000 Besucher kamen, mehr als 13 500 Startups präsentierten ihre Produkte.
«Wir hatten mehr Besucher als die CES in Las Vegas», sagt freudig Pierre Louette, der CEO der Mediengruppe Les Échos, die die Messe gemeinsam mit dem Werbeunternehmen Publicis seit 2016 veranstaltet. Die Consumer Electronics Show (CES) gilt als grösste Elektronikmesse der Welt. «Früher musste man dorthin gehen, wenn man französische Startups sehen wollte. Heute kommt die ganze Welt nach Paris.»
Die beste Antwort auf amerikanische KI
Das mag eine typisch französische Übertreibung sein – doch die Messe, bei der künstliche Intelligenz in diesem Jahr das dominierende Thema war, zog tatsächlich einige Grössen der Branche an: Metas KI-Chef Yann LeCun trat auf, Elon Musk schaltete sich online zum Q&A zu, auch der Anthropic-Gründer Dario Amodei war da. Nur ausgerechnet der grösste Star der französischen KI-Szene blieb weitestgehend stumm: Arthur Mensch. Am ersten Tag der Messe trat er kurz bei einer Podiumsdiskussion auf, danach wurde er nicht mehr gesehen.
Vermutlich hatte er Wichtigeres zu tun. Mensch ist einer der Gründer und der Geschäftsführer von Mistral, einem Startup, das derzeit als Europas beste Antwort auf US-Marktführer wie Open AI und Google gilt. Im Februar, da war das Unternehmen gerade einmal zehn Monate alt, stellte es bereits sein drittes Sprachmodell vor. Experten sind sich einig, dass es mit den Modellen von Open AI mithalten kann.
Und das, obwohl bei Mistral lediglich 60 Leute arbeiten. Auf der Viva Technology hatte das Unternehmen keinen eigenen Stand. «Arthur ist Ingenieur», sagt Pierre Louette, «und er investiert den Grossteil des Geldes von Mistral in Ingenieure.» Da bleibt keine Zeit für viel PR oder grosse Marketingkampagnen.
Schon bei der Gründung im Frühjahr 2023 sorgte Mistral für Aufsehen. Das Unternehmen hatte noch keinen Mitarbeiter und kein Produkt, da hatten Mensch und seine Mitstreiter Guillaume Lample und Timothée Lacroix schon 105 Millionen Euro eingesammelt. Heute wird Mistral mit zwei Milliarden Euro bewertet und bereitet sich laut diversen Berichten auf die nächste Finanzierungsrunde vor, in der es seinen Wert auf sechs Milliarden Euro verdreifachen will.
Die Pariser Startup-Szene blüht auf
Mit Mistral hat Frankreich ein neues Aushängeschild. Doch die hiesige Startup-Szene steht schon länger im Ruf, Ingenieurskunst und Entwicklergeist besonders gut zu vereinen. Inzwischen zählt Frankreich 34 Einhörner, also Startups, die mehr als eine Milliarde Euro wert sind. Die meisten davon befinden sich in Paris.
Mit Station F beherbergt die Hauptstadt den grössten Startup-Campus der Welt, gegründet 2017 vom französischen Tech-Milliardär Xavier Niel. Dort stehen im gemeinnützigen Forschungslabor Kyutai rund 300 Millionen Euro für Investitionen in europäische KI zur Verfügung. Mitgründer sind neben Niel der französische Logistikmilliardär Rodolphe Saadé und der frühere Google-Chef Eric Schmidt.
Das arbeitnehmerfreundliche französische Arbeitsrecht scheint bislang kein Hemmnis darzustellen, an vielversprechenden Startups mit KI-Fokus mangelt es nicht. 600 sind es in ganz Frankreich laut Regierungsangaben, rund ein Viertel mehr als Ende 2021. Die Anwendungsfelder erstrecken sich über alle Branchen.
Das Startup Bioptimus, das an einer künstlichen Intelligenz im Bereich Biomedizin arbeitet, wurde in der heimischen Presse schon kurz nach der Gründung als künftiges «Chat-GPT der Biologie» bejubelt. Dataiku, ein Plattformanbieter, der grosse Konzerne bei der Integration generativer KI-Anwendungen unterstützt, ist heute 3,4 Milliarden Euro wert. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz inzwischen nach New York verlegt, doch mit rund 450 von insgesamt 1100 Mitarbeitern sitzt ein Grossteil der Belegschaft nach wie vor in der französischen Heimat.
Französische Elite-Unis mit gutem Ruf
Als Grund für solche Erfolge wird neben der hohen Investitionsbereitschaft französischer Geldgeber oft der Ausbildungsstandard an den Universitäten genannt. So lobte einer der Dataiku-Gründer kürzlich im Gespräch mit der «FAZ» die Fokussierung der Pariser Hochschulen auf Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und maschinelles Lernen. Er selbst ist Absolvent der Elitehochschule École normale supérieure mit den Studienfächern Mathematik, Logik und Statistik.
Auch James Manyika, Vizepräsident des Forschungszweiges der Google-Firma Alphabet, lobte auf der Viva Technology die hohe Zahl gut ausgebildeter Talente in Frankreich. Sein Unternehmen gab Anfang des Jahres bekannt, in Paris ein neues KI-Forschungszentrum einrichten zu wollen. Auch Microsoft hat kürzlich eine Investition von vier Milliarden Euro angekündigt.
Im Silicon Valley geniessen Mathematiker und Informatiker französischer Elitehochschulen wie der École polytechnique und der Télécom Paris schon lange einen guten Ruf. Yann LeCun, Chefwissenschafter bei Meta, ist Franzose, ebenso François Chollet, Softwareentwickler bei Google, der ein in der Szene bekanntes Deep-Learning-Handbuch für die Programmiersprache Python geschrieben hat.
Wer gründen will, geht nicht mehr in die USA
Anders herum dürften Verbindungen ins Silicon Valley für den Erfolg von Mistral entscheidend gewesen sein: Arthur Mensch studierte zwar in Paris an der École polytechnique, doch seine Praxiserfahrung sammelte er bei der Google-Tochter Deepmind. Lacroix und Lample, die mit ihm Mistral steuern, arbeiteten vorher bei Meta.
«Viele Ingenieure, die derzeit im KI-Bereich arbeiten, haben eine französische Ausbildung durchlaufen», sagt auch der «Vivatech»-Veranstalter Pierre Louette. «Doch über lange Zeit hinweg war der Standard, dass diese in die USA gehen mussten, um ihre Produkte zu entwickeln. Das ist heute nicht mehr so.»
Eher im Gegenteil: Das Startup Poolside AI zog vergangenes Jahr sogar von Kalifornien nach Paris um, nachdem es unter anderem von französischen Investoren mehr als hundert Millionen Dollar Kapital eingesammelt hatte. Und auch die Mistral-Gründer zog es weg von ihren amerikanischen Arbeitgebern, die sie später als zu schwerfällig und ineffizient beschrieben.
«Frankreich tut viel, um Entwickler hier zu halten», sagt Louette. Zu den privaten Geldgebern im Land gesellt sich der französische Staat mit seiner in der Startup-Finanzierung sehr aktiven Förderbank Bpifrance. Im Vorfeld der Viva Technology kündigte Präsident Macron Investitionen in französische Hochschulen im Wert von 360 Millionen Euro zur Schaffung von KI-Clustern an. 200 Millionen davon gehen an Pariser Universitäten. Darüber hinaus muss jede Forschungseinrichtung in Frankreich einen Vorschlag dazu machen, wie sie ihre Mittel für interdisziplinäre Forschung im KI-Bereich einzusetzen gedenkt.
De Nice à Rennes en passant par Grenoble, Toulouse, Paris, Saclay ou encore Strasbourg, partout nous investissons pour constituer des pôles d’excellence en formation sur l’IA.
Objectifs : rester à la pointe en matière d’IA, doubler le nombre de talents et créer des emplois ! pic.twitter.com/BgwF9AXmXF
— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) May 21, 2024
«Emmanuel Macron hat sich fest vorgenommen, Frankreich zu einer Startup-Nation zu machen», sagt Pierre Louette. «Er liebt solche Dinge. Und die französische Regierung nimmt viel Geld in die Hand, um die Unternehmen zu unterstützen.»
Ein geheimnisvolles Startup will den Markt aufmischen
Im Vorfeld der Viva Technology empfing Macron die wichtigsten Akteure der Branche im Élysée-Palast, unter ihnen Arthur Mensch, Xavier Niel, Yann LeCun und Eric Schmidt. Am selben Tag kündigte eine Gruppe von Investoren, unter ihnen Niel und Schmidt, aber auch der LVMH-Chef Bernard Arnault, die Gründung eines neuen Unternehmens mit dem simplen Namen H an. Das Startup will eine allwissende, selbständig denkende KI entwickeln und hat dazu in seiner ersten Finanzierungsrunde 220 Millionen Dollar eingesammelt. Die Gründer: wieder ehemalige Deepmind-Ingenieure.
Damit scheint es, als würde Mistral auch in der Heimat schlagkräftige Konkurrenz bekommen. Das Unternehmen, das sich bisher ausdrücklich als Europas Gegenmodell zur Konkurrenz aus Übersee sah, ist inzwischen einen Schritt weitergegangen: Ende Februar stieg Microsoft mit 14 Millionen Euro als Investor ein. Die neue Partnerschaft sieht vor, dass die Franzosen ihr Sprachmodell auf der Cloud-Computing-Plattform von Microsoft, Azure AI, zur Verfügung stellen. Im Gegenzug sollen sie auf deren KI-Infrastruktur Zugriff erhalten.
Es gebe nun einmal keine europäischen Anbieter, die Mistral so viel Rechenleistung wie Microsoft zur Verfügung stellen könnten, verteidigte Arthur Mensch den Schritt gegenüber Kritikern. Bei der Finanzierung gelte das Gleiche: Die europäischen Fonds seien nicht ausreichend, um das derzeit laufende KI-Wettrüsten mit den benötigten Summen zu unterstützen. Ohne amerikanische Unterstützung wird es wohl auch in der neuen KI-Hochburg Frankreich nicht gehen.