Es geschieht selten, dass man eine Nationswerdung quasi live mitverfolgen kann. Die Ukraine erlebt seit ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion ihre zweite Wiedergeburt nach 1917.
In seinem Buch «Staatsbürgerschaft und Nation in Frankreich und Deutschland» unterscheidet der amerikanische Soziologe Rogers Brubaker 1992 zwei Nationsmodelle in Europa. Seine grundsätzliche Frage lautet: Wie entsteht ein Nationalstaat?
Erstaunlicherweise gibt es gegenläufige Entwicklungen, die zur staatlichen Institutionalisierung einer Nation führen. Das französische Modell geht von der politischen Einheit aus und schafft auf dieser Grundlage eine homogene Kultur. Die lange Geschichte der französischen Staatlichkeit – zunächst als Königreich, später als Republik – erlaubte es der Regierung, einen rigiden kulturpolitischen Imperativ durchzusetzen: «Alle Franzosen müssen Französisch sprechen.» Besonders stark wurden die «Einheit» und die «Unteilbarkeit» Frankreichs nach der Revolution betont.
Wie der Historiker Eugen Weber 1976 in seinem Buch «Von Bauern zu Franzosen» zeigte, verstärkte sich dieser Trend gegen Ende des 19. Jahrhunderts: In Frankreich sollten nur noch «Franzosen» leben. Diese Besonderheit zeigt sich bis heute in der Gesetzgebung. So ist es untersagt, bei soziologischen Umfragen Daten zum «ethnischen oder rassischen Hintergrund» der Bürger zu erheben.
Einheit der Kultur
Das deutsche Modell geht umgekehrt von einer als einheitlich vorgestellten Kultur aus und versucht auf dieser Grundlage einen Nationalstaat zu errichten. Der Imperativ lautet deshalb: «Alle Deutschsprachigen müssen zu Deutschen gemacht werden.» Während der Revolution von 1848 wurde eine «grossdeutsche Lösung» diskutiert, die allerdings nicht durchgesetzt werden konnte. Bismarck scheute in der Folge nicht davor zurück, drei Kriege vom Zaun zu brechen, um die deutsche Einheit unter preussischer Führung zu schaffen.
Noch in der offiziellen Bezeichnung des «Grossdeutschen Reichs» in der Nazizeit hallt der Anspruch eines einheitlichen Staates für alle Angehörigen einer ethnokulturellen Gemeinschaft nach. Bis heute führt dieses Nationsbildungsmodell zu konkreten Folgen etwa für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. So ist laut Bundesvertriebenengesetz Deutscher, «wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird».
Sowohl das französische als auch das deutsche Modell haben in der europäischen Kulturgeschichte eine enorme Anziehungskraft entfaltet. Deutlich beobachten lässt sich die Wirkmächtigkeit des deutschen Modells in Russland. Ein zentrales Argument des Kremls für die Annexion der Krim und den Überfall auf die Ukraine lautete, dass dort angeblich «Russen» lebten. Putin hält Russland seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion für die «grösste geteilte Nation der Welt». Deshalb müssen von «Russen» bewohnte Gebiete in die Russische Föderation zurückgeholt werden. Von einem ähnlich normativen Verständnis ethnisch-kulturell homogener Nationalstaaten war auch Mussolini beseelt, der die Schweiz als «Irrtum auf der Landkarte» bezeichnete.
Aber auch für die Ukraine war zunächst das deutsche Modell attraktiv. Unmittelbar nach dem russischen Oktoberumsturz 1917 umrissen die Politiker der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik ihr eigenes Territorium: «Alle Gouvernements, die mehrheitlich von Ukrainern besiedelt sind, gehören zum Territorium der Ukrainischen Volksrepublik. Alle übrigen Grenzen, das heisst Teile von Kursk, Cholm und Woronesch, wo die Mehrheit ukrainisch ist, sollen durch Plebiszite bestimmt werden.»
1919 präsentierte die ukrainische Delegation an der Versailler Friedenskonferenz eine Karte mit umfassenden territorialen Ansprüchen, die auch die heute russischen Regionen Belgorod, Rostow und Krasnodar umfasste. Allerdings waren die Ukrainer in Paris nicht offiziell anerkannt. Sie appellierten dennoch an die Siegermächte: «Unsere demokratischen Freunde sind weit entfernt, und Räuber, die unser Getreide und unser Öl wollen, sind sehr nahe. Die Alliierten haben mit der Hilfe der USA den Krieg gewonnen, aber werden sie auch den Frieden gewinnen?»
Nach dem Sieg der Rotarmisten im Bürgerkrieg richtete der Historiker Michailo Hruschewski im Jahr 1924 ein Memorandum an die ukrainische Sowjetregierung, die südrussische Kuban-Region solle an die Ukraine angeschlossen werden, weil dort ukrainischsprachige Kosaken lebten. Allerdings machte die Moskauer Führung schnell klar, dass solche Vorstösse nicht opportun seien.
Ziel: ein homogener Staat
Nach dem misslungenen Augustputsch 1991 in Moskau erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Im Dezember 1991 wurde ein Referendum über diese Frage mit einer überwältigenden Mehrheit von 90 Prozent angenommen. So gar auf der Krim wurden Werte von 54 und 57 Prozent erreicht. Zwar hatte in Russland Gorbatschows Rivale Boris Jelzin den Zerfall der Sowjetunion energisch vorangetrieben. Er hoffte aber darauf, dass Moskau in der neu gegründeten «Gemeinschaft unabhängiger Staaten» eine Führungsrolle einnehmen würde. Aus russischer Sicht war die Grenze zur Ukraine deshalb nach wie vor eine «interne», während die Ukraine auf der genauen Demarkation ihres Staatsgebiets beharrte.
In den neunziger Jahren wechselte das ukrainische Nation-Building vom deutschen zum französischen Modell. Man projizierte die eigene Staatlichkeit bis weit ins Mittelalter hinein und verstand etwa das galizisch-wolhynische Fürstentum im 13. Jahrhundert als Vorläuferstaat der Ukraine. Die heute gültige Verfassung aus dem Jahr 1996 beruft sich sowohl auf die «jahrhundertealte Tradition des Staatsaufbaus» als auch auf das «Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Nation». Als einzige Staatssprache wird in Artikel 10 das Ukrainische bestimmt.
Aus solchen Formulierungen wird deutlich, dass aus der Existenz eines unabhängigen ukrainischen Staates die Pflicht zu einer kulturellen Homogenisierung abgeleitet wird. Artikel 11 legt sogar die «Stärkung der ukrainischen Nation, ihres historischen Bewusstseins, ihrer Tradition und Kultur» als Staatsaufgabe fest. Zwar zollt die Verfassung auch dem ethnografischen Status quo ihren Tribut, indem sie das Staatsvolk als «ukrainische Bürger aller Nationalitäten» definiert. Dennoch bleibt das französische Vorbild eines kulturell homogenen Staates als Ziel der historischen Entwicklung deutlich erkennbar.
Gleichzeitig wurde auch die Existenz des ukrainischen Staates völkerrechtlich gefestigt. 1997 unterzeichneten Russland und die Ukraine einen «Vertrag über Kooperation, Freundschaft und Partnerschaft». In diesem Dokument wurde die territoriale Integrität der unabhängigen Ukraine innerhalb der Grenzen der Sowjetukraine erstmals explizit anerkannt. 2003 folgte ein «Vertrag über die ukrainisch-russische Staatsgrenze», den Putin und der damalige ukrainische Präsident Kutschma unterzeichneten.
Einstweilen gab es auch Abweichungen vom französischen Vorbild. Unter Präsident Janukowitsch, der selbst aus Donezk stammt, wurde 2012 das sogenannte Kolesnitschenko-Kiwalow-Gesetz verabschiedet, das die offizielle Verwendung von anderen Sprachen als dem Ukrainischen in Regionen mit ethnischen Minderheiten von mehr als zehn Prozent vorsah. Die Regelung betraf natürlich vor allem das Russische, aber auch das Ungarische oder das Rumänische.
Schon 2018 – nun bereits unter Präsident Poroschenko – kassierte jedoch das ukrainische Verfassungsgericht dieses liberale Sprachgesetz, weil es Artikel 10 widerspreche. Bereits 2016 und 2017 waren hohe Quoten für ukrainischsprachige Sendungen in Fernsehen und Radio festgelegt worden.
2019 schliesslich ordnete ein Gesetz mit dem sperrigen Titel «Über die Sicherstellung des Funktionierens des Ukrainischen als Staatssprache» an, dass Hochschulbildung nur noch auf Ukrainisch möglich sei. Als Argument schob man die Chancengleichheit von zukünftigen Staatsangestellten vor: Wenn ein nicht ukrainischsprachiger Bürger in den Staatsdienst eintreten wolle, sei er benachteiligt, wenn er sein Studium nicht auf Ukrainisch absolviert habe. Der wahre Grund lag natürlich in der Bestätigung des französischen Nationsmodells für die Ukraine.
Die Ukrainer erschaffen
In jüngster Zeit rückt allerdings noch ein weiteres Nationsmodell in den Vordergrund: das italienische. Die Einigung Italiens war von Piemont ausgegangen und breitete sich in den 1860er Jahren nach Süden und Osten aus. Als das italienische Königreich 1861 proklamiert wurde, kommentierte der Literat und Politiker Massimo d’Azeglio nüchtern: «Nachdem wir nun Italien geschaffen haben, müssen wir noch die Italiener erschaffen.»
Genau dieses Bonmot griff der ukrainische Präsident Leonid Kutschma 2003 in seinem programmatischen Buch «Die Ukraine ist nicht Russland» auf. Ein ganzes Kapitel trägt hier die Überschrift «Die Ukrainer erschaffen». Kutschmas Ansatz zielt auf eine wichtige historische Parallele.
In der Tat darf die Westukraine als Piemont der ukrainischen Nationsbildung gelten. Galizien mit seinem Hauptort Lwiw versteht sich als Wiege der ukrainischen Nationalkultur. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Tatsache, dass Galizien bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich gehörte und in der Zwischenkriegszeit Teil des polnischen Staates war.
Der zunehmend nationsfeindliche Sowjetkommunismus dauerte in Galizien nur zwei Generationen, nicht vier wie in der Zentral- und der Ostukraine. Zwar hatte die sowjetische Nationalitätenpolitik zunächst die ukrainische Sprache und Kultur gefördert. In den dreissiger Jahren galten aber ukrainische Aktivitäten als «nationalbürgerliche Abweichungen» und wurden mit aller Härte verfolgt. 1937 wurde in Nordrussland eine ganze Generation ukrainischer Kulturschaffender erschossen. Auch in Polen galten die Ukrainer als unsichere Kantonisten. Immerhin konnte aber der Publizist Dmitro Donzow in der Zwischenkriegszeit in Lwiw eine ultranationalistische Zeitschrift herausgeben.
Das «italienische Muster» lässt sich in der neusten ukrainischen Geschichte empirisch nachweisen. In einer Längsschnittstudie der Universität St. Gallen wurde die nationale Selbstcharakterisierung der Bevölkerung in den Jahren 2013 und 2015 untersucht. In Galizien gab es bereits 2013 eine überwältigende Mehrheit, die sich zur ukrainischen Nation bekannt hat. Im Zeitraum zwischen 2013 und 2015 stieg auch die Zahl der Befragten, die sich in der Zentral- und der Ostukraine als «Ukrainer» bezeichneten, deutlich an.
Der Grund dafür liegt in der patriotischen Reaktion auf die doppelte russische Aggression in der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014. Der offene Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das ukrainische Nationalprojekt auch in der Ostukraine weiter gestärkt. In diesem Sinne ist Putin der wichtigste Geburtshelfer einer ukrainischen Nationsbildung, die mit einem «deutschen» Sammeln der Länder begann, sich in einer «französischen» kulturellen Homogenisierung fortsetzte und in einer «italienischen» Ost- und Südexpansion abgeschlossen wurde.