Die Ärztepräsidentin Yvonne Gilli kämpft für ein Ja zur Gesundheitsreform: Die Vorlage beseitige den grössten Fehlanreiz. Die gegenwärtige Entwicklung in der Debatte um die Suizidhilfe findet sie gefährlich.
Frau Gilli, die Ärzteschaft ist eine der einflussreichsten Gruppen im Gesundheitswesen. Nun setzen Sie Ihr ganzes Renommee ein, um der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) zum Durchbruch zu verhelfen. Sind Sie optimistisch für die Abstimmung?
Schon mehrere Leute aus meinem Umfeld haben mich gefragt, ob ich bloss als FMH-Präsidentin für diese Reform sei – oder wirklich auch als Privatperson. Das deutet auf eine gewisse Verunsicherung hin. Diese kommt daher, dass der Gesetzestext ziemlich kompliziert tönt. Dabei ist es gar nicht so schwierig zu verstehen.
Was bewirkt die Reform denn?
Sie beseitigt den grössten Fehlanreiz, den wir im Gesundheitswesen in der Schweiz haben. Weil immer mehr Menschen auch teure und komplexe Behandlungen ambulant erhalten, geht das zulasten der Prämien. Denn ambulante Behandlungen bezahlt ausschliesslich die Krankenkasse. Künftig würde sich auch der Kanton daran beteiligen.
Wie zeigen sich die heutigen Fehlanreize konkret im Alltag des medizinischen Personals?
Wir Ärzte bekommen teilweise keine Kostengutsprache für eine ambulante Behandlung – für die Versicherer ist es günstiger, wenn die Patienten ins Spital gehen, auch wenn das unter dem Strich viel teurer ist. Ähnlich bei der Langzeitpflege: Pflegebedürftige ältere Menschen stehen heute unter einem grösseren Druck, sich in ein Pflegeheim zu begeben, obwohl sie noch daheim leben könnten.
Die Ärzte haben eine starke Stellung: Letztlich entscheiden Sie, wie und wo ein Patient behandelt wird. Dann könnten Sie doch auch die Ambulantisierung vorantreiben.
Der Konjunktiv nützt uns nichts. Das Problem ist, dass die Kassen unter den heutigen Bedingungen kein Interesse haben, die ambulanten Behandlungen zu fördern. Das zeigt sich besonders in der integrierten Versorgung innerhalb von Ärztenetzwerken. Diese spart viel Geld, weil es keine doppelten Untersuchungen und weniger Spitaleinweisungen gibt. Doch das nützt bis jetzt fast nur den Kantonen, das gesparte Geld kommt am falschen Ort an. Mit Efas wäre das anders, die Kassen würden in die medizinische Qualität investieren, weil sie davon profitieren.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Die meisten Patienten wollen möglichst lange daheim bleiben. Dazu braucht es dort die nötigen Ressourcen. Man kann beispielsweise bei Patienten mit chronischen Krankheiten digitale Tools einsetzen, um aus der Ferne die Vitalwerte zu überwachen. Das kostet. Ebenso wie Praxisassistentinnen in Hausarztpraxen, die die Behandlung von Diabeteskranken steuern und für mehr Effizienz sorgen und teure Hospitalisationen verhindern. Für solche Investitionen fehlen im ambulanten Bereich derzeit die Mittel.
In der Schweiz werden nur 20 Prozent der Operationen ambulant gemacht, in Nordamerika sind es rund 80 Prozent. Die Gewerkschaften sagen, der Staat könne die ambulante Durchführung einfach verordnen.
Das sehe ich sehr kritisch. Bei einem Patienten, der chronisch krank ist und zu Hause schwierige Verhältnisse hat, kann es sinnvoller sein, eine Operation stationär zu machen. So eine Entscheidung sollen Patient und Arzt gemeinsam fällen, auch mit Berücksichtigung der Lebensumstände.
Aber Ausnahmen sind doch auch bei staatlichen Operationslisten möglich.
Ja, aber das System würde noch ineffizienter. Stellen Sie sich vor, wie gross der Aufwand wäre, eine solche Ausnahme für die Kostengutsprache zu rechtfertigen. Und die überbordende Bürokratie ist schon jetzt einer der Hauptgründe dafür, dass junge Ärztinnen und Ärzte aus dem Beruf aussteigen. Es ist viel sinnvoller, mit Anreizen zu arbeiten statt mit starren Regeln.
Im «Blick» haben einige Ärzte die FMH kritisiert: Ihr Verband blende aus, dass die Reform zu höheren Prämien führe. Was halten Sie von diesem Argument, das auch für die Gewerkschaften im Vordergrund steht?
Nichts. Efas bremst den Anstieg der Prämien auf jeden Fall. Die Gewerkschaften behaupten, der Einbezug der Langzeitpflege falle mehr ins Gewicht als die Einsparungen bei den ambulanten Behandlungen. Aber der ambulante Kostenblock ist viel grösser als jener der Langzeitpflege. Und auch in dieser wird sich die Reform positiv auswirken.
Gibt es sonst irgendwelche Argumente des Referendumskomitees, die für Sie stichhaltig sind?
Nein, die Argumente sind alle vorgeschoben. Es gibt für kein einziges eine gute Begründung. Auch die FMH war früher dagegen, die Langzeitpflege in die Reform zu integrieren, das hat das Ganze viel komplizierter gemacht. Aber es war eine zentrale Forderung der Kantone, so hat man einen gutschweizerischen Kompromiss gefunden.
Laut den Gewerkschaften wird wegen Efas der Druck auf die Pflegenden stark steigen.
Niemand in der Branche hat Angst vor Efas. Die Pflegeheime und die Spitex sind dafür, ebenso die allermeisten Gesundheitsfachpersonen. Auch der Berufsverband der Pflegefachpersonen unterstützt das Referendum bewusst nicht. Einen Effizienzdruck spüren tatsächlich alle, die im Gesundheitswesen arbeiten. Aber das hat nichts mit dieser Reform zu tun, sondern mit den steigenden Kosten, die für viele Prämienzahler eine Belastung sind.
Es soll auch die Macht der Krankenkassen wachsen – und das wäre dann eine schlechte Nachricht für die Ärzteschaft, die mit den Versicherern immer wieder heftige Konflikte austrägt.
Auch dieses Argument ist nicht stichhaltig, es ist zudem hochgradig widersprüchlich. Gleichzeitig weisen die Gewerkschaften nämlich darauf hin, dass mit Santésuisse einer der beiden Krankenkassenverbände gegen die Reform war – das wäre ja kaum passiert, wenn die Reform so toll wäre für alle Versicherer. Das Referendumskomitee versucht, mit dem Klischee der bösen Kassen die Stimmbürger zu beunruhigen. Was unser Verhältnis zu den Versicherern betrifft: Ja, wir verhandeln hart um Tarife. Aber wir bemühen uns auch, gemeinsam Lösungen zu finden. Bei Efas ist das gelungen. Und beim ambulanten Tarif letztlich auch.
Auf diesen Tarif haben sich Ärzte und Spitäler mit den Kassen nach jahrelangem Gezerre geeinigt. Bringt der Tarif den Hausärzten, Psychiaterinnen und Pädiatern höhere Einkommen, was ja eines der Ziele war?
Im alten Tarif waren alle Behandlungen, für die es Apparate brauchte, gut bis sehr gut entgolten, das half den Spezialisten. Das Gespräch zwischen Arzt und Patient kam tarifarisch zu kurz – obwohl die Hausarztmedizin die kosteneffizienteste Medizin ist. Da gibt es in der Tat eine Korrektur bei den Vergütungen. Aber wir möchten wegkommen von der Einkommensdiskussion. Letztlich braucht es einen sachgerechten Tarif für ärztliche Leistungen, der auf Daten basiert. Und der es ermöglicht, schnell auf medizinische Entwicklungen zu reagieren sowie den Patienten die optimalen Behandlungen anzubieten.
Sie können aber nicht wegdiskutieren, dass die Tarifreform für die FMH eine Zerreissprobe war, weil die Spezialisten künftig weniger verdienen.
Es stimmt, eine solche Tarifreform ist eine Win-lose-Situation, weil es insgesamt nicht mehr Geld gibt. Aber beim Tarif für Einzelleistungen haben wir es geschafft, über alle ärztlichen Disziplinen hinweg eine Einigung zu erzielen. Hinter dieser stehen auch die Verlierer. Der Unmut richtet sich mehr auf die neuen ambulanten Pauschalen. Diese sind sehr schlecht gebaut: In manchen Pauschalen sind Leistungen vereint, die bis jetzt 100 Franken kosten – oder auch 3000 Franken. So besteht ein grosses Risiko, dass besonders komplizierte Behandlungen gar nicht mehr angeboten werden.
Ist das nicht etwas alarmistisch? Ein Spezialist darf doch einen Patienten, dessen Behandlung etwas teurer ist, nicht einfach wegschicken.
Er schickt den Patienten dafür ins Spital, etwa wenn ein Verdacht auf einen Hautkrebs besteht. Denn falls sich der Verdacht bestätigt, wird es sehr teuer. Ein Mediziner mit eigener Praxis kann kein beliebig grosses Defizit tragen. In manchen Ländern behandeln Ärzte in solchen Fällen nur weiter, wenn der Patient das aus der eigenen Tasche bezahlt. Ein solches Risiko sollten wir bei uns nicht eingehen. Wir haben erfolglos darauf gepocht, dass wir noch zwei Jahre länger an den Pauschalen feilen können.
Ein Radiologe wird auch künftig viel mehr verdienen als ein Psychiater. Wäre es erstrebenswert, dass sich die Einkommen der verschiedenen Disziplinen noch stärker einander annähern?
Da muss man aufpassen. Bei solchen Vergleichen werden häufig die Arbeitspensen nicht berücksichtigt. Und auch nicht, dass viele Spezialisten dank den Privatversicherungen höhere Einkommen generieren. Bei den Leistungen, die die Grundversicherung finanziert, sind die Unterschiede viel geringer.
Aber die Lohndifferenzen tragen zum Nachwuchsmangel in der schlechter bezahlten Grundversorgung bei.
Es würde zwar nicht erstaunen, wenn solche ökonomischen Anreize eine Rolle spielen würden – aber es ist nicht so. Bei jenen, die in der Schweiz Medizin studieren, ist die Hausarzttätigkeit seit Jahren gleich beliebt. Dass aus dem Ausland besonders viele Spezialisten zu uns kommen, hat wohl auch damit zu tun, dass sie oft an den Spitälern tätig und damit mobiler sind als die Kollegen mit eigener Praxis.
Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider hat sich stark für die Tarifreform eingesetzt. Sind Sie mit ihr glücklicher als mit ihrem Vorgänger Alain Berset, den Sie immer wieder harsch kritisiert haben?
Ich muss nicht glücklich sein mit einer Bundesrätin. Aber Berset wollte offensichtlich die Tarifreform nicht anpacken, obwohl ihm klar sein musste, dass wir in einer misslichen Situation waren – die heutige Tarifstruktur ist komplett veraltet. Berset hat die Versicherer untereinander und die Kassen und die Ärzte geschickt gegeneinander ausgespielt. Das führte zu einem Reformstau. Baume-Schneider hat die Chance des Neuanfangs gepackt und eine gemeinsame Lösung eingefordert.
Das Parlament hat beschlossen, den Numerus clausus für das Medizinstudium abzuschaffen. Reicht das, um den Ärztemangel zu entschärfen?
Wir sind nicht unglücklich über die Abschaffung des Numerus clausus, die FMH hat ihn immer wieder kritisiert. Vor allem weil das Verfahren naturwissenschaftlich-kognitive Fähigkeiten zu stark gewichtete. Es besteht nun die Chance, auch soziale Kompetenzen einzubeziehen. Diese sind nicht nur für Hausärzte oder Psychiaterinnen wichtig, sondern auch für Chirurgen. Aber das Problem, dass wir zu wenige Studienplätze und Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten haben, bleibt bestehen.
Was ist die Antwort darauf?
Deutlich mehr Studienplätze. Und es braucht eine Reform, die eine öffentliche Finanzierung von Weiterbildungsplätzen in Spitalambulatorien oder Arztpraxen sicherstellt. Dort wird es in Zukunft viel mehr Operationen geben – und weniger in den Spitälern, auf die unser Aus- und Weiterbildungssystem derzeit ausgerichtet ist.
Ein grosses Thema auch in der Ärzteschaft ist die Work-Life-Balance. Wie viel haben Sie als junge Ärztin gearbeitet?
Das war krass, als Assistenzärztin in den neunziger Jahren kam ich auf 80 bis 100 Stunden pro Woche. Ich hatte schon eine Familie, war aber während einiger Jahre kaum mehr zu Hause. Wir mussten jemanden anstellen, der sich um die Kinder kümmerte.
Das tut sich heute niemand mehr an.
Nein. Das ist – neben der Alterung der Gesellschaft und dem Wachstum der Bevölkerung – einer der Gründe, warum wir mehr Ärztinnen und Ärzte brauchen. Das kann man bedauern, aber ändern lässt es sich nicht. So wie wir 68er und Post-68er uns gegen gesellschaftliche Konventionen auflehnten, so lehnt sich die Generation der heutigen Jungen nun gegen das Arbeitsethos von uns Alten auf, die ein Selbstverständnis als «Gschaffige» haben.
Die Rechnung ist einfach: Wenn die Jungen nur noch 40 statt 80 Stunden arbeiten wollen, brauchen wir allein deswegen doppelt so viele Ärzte.
Vielleicht nicht gerade doppelt so viele. Wenn wir die Digitalisierung besser nutzen, kann das die Ärzte von der Bürokratie entlasten und für andere Tätigkeiten freispielen. Auch die Ambulantisierung setzt Ressourcen frei, weil man weniger Nachtschichten abdecken muss.
Ein Thema, das die Öffentlichkeit beschäftigt, ist die Sterbehilfe. Die Suizidkapsel Sarco ist auch ein Misstrauensvotum gegen die Mediziner: Diese sollen beim Sterbeprozess übergangen werden und kein Veto mehr einlegen können.
Es ist eine kleine, aber radikale und laute Minderheit, die diese Debatte nun führen will. Wir tun gut daran, die Ärzte in einer zentralen Rolle bei der Suizidhilfe zu belassen. Es geht um den Schutz der Menschenwürde in der vielleicht vulnerabelsten Situation eines Lebens. Da müssen die Rahmenbedingungen sehr klar definiert sein. Wir haben eines der liberalsten Systeme der Welt, da sind auch wir gegen Missbrauch nicht gefeit.
Ärzte dürfen das tödliche Medikament heute nur dann verschreiben, wenn eine Person «unerträglich leidet». Ist eine Öffnung für gesunde, aber lebensmüde Menschen denkbar?
Die Regeln sind nicht in Stein gemeisselt. Einst musste der Tod kurz bevorstehen, wenn jemand Suizidhilfe wollte, heute sind wir beim Leiden als entscheidendem Kriterium. Darum haben wir lange gerungen. Vielleicht findet man irgendwann eine bessere Formulierung.
Sie würden einer 80-jährigen Frau, die gesund ist, aber zusammen mit ihrem todkranken Ehemann sterben möchte, den assistierten Suizid nicht zugestehen?
Ich finde das eine sehr gefährliche Entwicklung. Sehr alt zu werden, hat einen hohen Preis: Es gilt, viele Verluste zu bewältigen – Freunde, Partner, vielleicht sogar eigene Kinder. Meine Erfahrung im Umgang mit Senioren ist, dass diese Verluste zwar hart sind, dass sie aber nicht dem eigenen Leben jeglichen Inhalt nehmen müssen. Ich bin überzeugt, dass jedes Leben für sich einen Sinn hat. Die Gesellschaft kann einen Beitrag gegen die Einsamkeit leisten, indem sie beispielsweise Wohnformen schafft, die soziale Kontakte ermöglichen.
Haben Sie Angst, dass die Schweizer Ärzte unter Druck kommen könnten, Suizidhilfe leisten zu müssen?
Ich schliesse nicht aus, dass sich die Gesellschaft in diese Richtung entwickelt. Für mich ist klar, dass Suizidhilfe keine genuin ärztliche Aufgabe ist, auch wenn ich jene Ärzte wertschätze, die sich dazu bereit erklären. Jeder Arzt muss ein Recht haben, Nein zu sagen, wenn es um medizinethische Überzeugungen geht.