Weshalb wollte die einstige Kolonialmacht in den 1960er Jahren die indigene Bevölkerung auf Grönland dezimieren?
Naja Lyberth war 14 Jahre alt, als sie auf dem Untersuchungsstuhl eines Gynäkologen sass und einen stechenden Schmerz in ihrem Unterleib spürte. Wie Messerstiche, wird sie es Jahre später beschreiben. Doch es war kein Messer, das der Arzt in sie eingeführt hatte, sondern eine Spirale. Er hatte sie ohne Lyberths Zustimmung eingesetzt. Weshalb, sollte sie erst Jahrzehnte später erfahren.
Der Eingriff wurde 1976 in der Stadt Maniitsoq auf Grönland durchgeführt. Lange schwieg Lyberth darüber, was ihr widerfahren war – bis 2017, als sie ihre Geschichte auf Facebook publik machte. Mit ihrem Post stiess sie eine Recherche an, die Ungeheuerliches zutage förderte.
Die dänische Rundfunkanstalt DR deckte 2022 im fünfteiligen Podcast «Die Spiralenkampagne» auf, dass zwischen 1966 und 1975 auf Grönland 4500 Spiralen eingesetzt wurden. Viele davon mutmasslich gegen den Willen oder ohne das Wissen der betroffenen Frauen und Mädchen. Die «Spiralenkampagne» sollen dänische Behörden in Auftrag gegeben haben.
Die offizielle Untersuchung läuft noch. Sie wurde im Mai 2023 von der dänischen und der grönländischen Regierung in Auftrag gegeben. Ein Teil der betroffenen Frauen wollte nicht auf die Ergebnisse warten: 143 von ihnen haben im März den dänischen Staat verklagt. Sie fordern eine Entschädigung von insgesamt 43 Millionen dänischen Kronen (5,5 Millionen Franken). Vom Prozess erhofften sie sich aber noch etwas anderes, sagte Naja Lyberth dem grönländischen Sender KNR: eine Entschuldigung.
Lassen sich die Vorwürfe nach so vielen Jahren beweisen? Und welches Motiv sollte die Regierung von Dänemark überhaupt gehabt haben, um Tausenden Grönländerinnen – viele von ihnen noch Kinder – gegen ihren Willen eine Verhütung aufzuzwingen?
Das Motiv: unbestritten
Am Anfang des 20. Jahrhunderts war Grönland eine dänische Kolonie, aus der 1953 die nördlichste Provinz des Landes wurde. In den 1950er und 1960er Jahren führten Migration und eine bessere Gesundheitsversorgung zu einem raschen Bevölkerungszuwachs auf der Insel. Für die Regierung in Kopenhagen bedeutete das vor allem eins: Mehrkosten.
Peter Bjerregaard hat in den 1970er Jahren als Arzt auf Grönland gearbeitet und später die gesundheitliche Entwicklung der arktischen Bevölkerung wissenschaftlich untersucht. Dem Sender DR sagt er, dass es nicht nur im Interesse Dänemarks gewesen sei, die Bevölkerung auf der Insel zu reduzieren. «Auch die grönländischen Behörden wollten etwas gegen die Zahl der Mütter im Teenageralter und die hohe Geburtenrate unternehmen.» Druck hätten vor allem die Familien, aber auch kinderreiche Frauen selbst ausgeübt.
Unbestritten scheint, dass die Spirale auf Grönland zu jener Zeit einen Boom erlebte. Erwiesen ist auch, dass die eingesetzten Spiralen schon bald die erwünschte Wirkung zeigten. 1970 stellte der Grönlandminister Arnold Christian Normann in einer Rede fest, dass sich die Zahl der Geburten zwischen 1966 und 1970 beinahe halbiert habe.
Die Beweise: schwer zu finden
Wie vielen Frauen die Spirale aufgezwungen wurde, wird nach all den Jahren schwieriger zu ermitteln sein. In den 1960er und 1970er Jahren war die Gesundheitsversorgung auf Grönland dezentral organisiert. Laut Peter Bjerregaard wurde das Thema Familienplanung in den einzelnen Bezirken unterschiedlich gehandhabt, und eine Dokumentation über die genaue Vorgehensweise der Ärzte fehlt vielerorts.
Auch wenn die Frauen theoretisch die Wahl gehabt hätten, bedeute das nicht, dass es auch in der Praxis so gewesen sei, sagt Bjerregaard zu DR. Es bestehe kein Zweifel daran, dass manche Ärzte in Bezug auf die Spiralen «energischere» Überzeugungsarbeit geleistet hätten als andere. Für die jungen Mädchen seien die Mediziner Autoritätspersonen gewesen, denen es nicht zu widersprechen gegolten habe.
Das hat auch Naja Lyberth so erlebt. Der Bezirksarzt habe die Mädchen in ihrer Klasse darüber informiert, dass sie sich Spiralen einsetzen lassen sollten. «Es wurde nicht gefragt, ob wir das wollen oder nicht. Wir hatten keine Möglichkeit, zu widersprechen», erzählt sie dem grönländischen Sender KNR. Sie habe sich wehren wollen, doch sie sei verängstigt gewesen und sei erstarrt. Auch ihre Eltern seien über den Eingriff an ihrer minderjährigen Tochter nicht informiert worden.
Die Folgen: noch lange nicht vorbei
Naja Lyberth ist heute 62 Jahre alt. Ihr Leben war von Schmerzen geprägt. Die Spirale, die ihr eingesetzt wurde, war für die Gebärmutter des Mädchens, das noch nie Geschlechtsverkehr gehabt, geschweige denn ein Kind geboren hatte, zu gross. Bei jeder Periode habe sie Schmerzen verspürt, die sie an Messerstiche erinnerten – die gleichen Beschwerden, die sie mit 14 Jahren auf dem Stuhl des Gynäkologen zum ersten Mal gehabt hatte.
Die physischen Schmerzen sind das eine, die psychischen Folgen das andere. Durch die Spiralen wurde den Frauen das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen. Das Ziel – die Eindämmung des Bevölkerungswachstums – wurde erreicht, weil viele von ihnen nie Kinder haben konnten. Die ältesten Klägerinnen sind heute 80 Jahre alt. Sie wollten auch deshalb nicht auf die Ergebnisse der offiziellen Untersuchung warten, weil es für Gerechtigkeit dann bereits zu spät sein könnte.