Um die berufliche Vorsorge in der Schweiz ranken sich manche Vorurteile und Halbwahrheiten. Was stimmt, was nicht?
Am 22. September steht die nächste Abstimmung in der Altersvorsorge an. An der Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) scheiden sich die Geister, und viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind etwas ratlos, ob sie ein Ja oder ein Nein in die Urne legen sollen.
Dies dürfte nicht zuletzt an der Komplexität des Themenbereichs liegen, der mit seinen Fachbegriffen viele Menschen verwirrt. Gleichzeitig ist die Pensionskasse aber für viele Menschen der grösste Teil ihres Vermögens. Folglich ist es wichtig, zu verstehen, wie die zweite Säule des Schweizer Altersvorsorgesystems funktioniert.
Wie Umfragen immer wieder zeigen, fehlt es vielen Menschen an Wissen über die Vorsorge. So ranken sich manche Irrtümer um die Pensionskassen und halten sich hartnäckig. Hier ist eine Auswahl davon – sowie jeweils eine kurze Erklärung, ob es sich dabei um einen kompletten Mythos handelt oder ob es doch einen wahren Kern gibt.
1. «Ich werde mein Vorsorgegeld vermutlich sowieso nicht bekommen»
Diese Einschätzung ist sehr pessimistisch und entbehrt jeglicher Grundlage. Bálint Keserü vom Beratungsunternehmen Aon weist darauf hin, dass die Beiträge, die der Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber in die Pensionskasse eingezahlt haben, gesetzlich garantiert sind – inklusive der entsprechenden Zinsen.
Viele Leute seien irritiert, dass eine Pensionskasse in einem guten Jahr eine Anlage-Performance von beispielsweise 10 Prozent erziele, dass ihr Vorsorgeguthaben im selben Jahr aber nur mit 5 Prozent verzinst werde, sagt Keserü. Hier gebe es eben keinen Zusammenhang von eins zu eins. Wer das kritisiert, sollte beachten, dass Pensionskassen selbst in einem schlechten Anlagejahr wie 2022 einen positiven Zins auf die Vorsorgeguthaben gezahlt haben. Der Mindestzinssatz in der obligatorischen beruflichen Vorsorge liegt derzeit bei 1,25 Prozent.
Die Sorge, dass das Vorsorgeguthaben «weg» sein könnte, bis man selbst in Rente geht, wird oft von jüngeren Versicherten geäussert, vor denen eine lange Zeit bis zur Pensionierung liegt. In vergangenen Jahren, als die Umverteilung zwischen Aktiven und Rentnern bei den Pensionskassen hoch war und bis zu 7 Milliarden Franken pro Jahr betrug, gab es einen Ansatzpunkt für diese Kritik.
Die Nachfinanzierung von bestehenden Rentenverpflichtungen zulasten der aktiven Versicherten wurde aber laut der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) in den vergangenen Jahren gestoppt. «Die Pensionskassen haben einen grossen Teil ihrer Hausaufgaben gemacht», sagt auch Laurent Schlaefli, Chef der Vorsorgeeinrichtung Profond und Präsident von Inter-Pension, dem Verband der unabhängigen Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen.
2. «Pensionskassenbeiträge sind Steuern oder Gebühren»
Dies ist natürlich ebenfalls falsch. Eine Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo im Auftrag von Zurich Schweiz und der Sammelstiftung Vita hat 2022 ergeben, dass 28 Prozent der Befragten die Lohnabzüge der beruflichen Vorsorge als eine Art Steuer wahrnahmen, als eine Art Beitrag zur Sicherung der Renten in der Schweiz.
«Viele Leute realisieren nicht, dass sie in der Pensionskasse für sich selber sparen», sagt Schlaefli dazu. Sie wüssten und merkten nicht, dass Pensionskassenbeiträge Sparbeiträge sind. «Viele Arbeitgeber zahlen sogar Beiträge von mehr als 50 Prozent. Das ist ein versteckter Lohn und das sind ganz sicher keine Steuern», sagt er. Viele Arbeitnehmer wüssten gar nicht, wie spendabel sich ihre Arbeitgeber oftmals zeigten.
Solche Irrtümer offenbarten das fehlende Vorsorgewissen mancher Menschen, sagt Aon-Vertreter Willi Thurnherr. Die Versicherten bekämen das Geld, das ihnen vom Lohn abgezogen werde, ja später mit einer hoffentlich deutlichen Rendite als Kapital oder Rente zurück. «Man kann dieses selbe Geld nicht direkt haben und dann noch einmal, wenn man pensioniert ist.» Allerdings sollte sich auch die Vorsorgebranche ihrer Verantwortung bewusst sein, den Menschen zu erklären, wie die Altersvorsorge in der Schweiz funktioniert – zumal es sich um ein «Zwangssparen» handelt.
3. «Ein hoher Umwandlungssatz bringt in jedem Fall mehr Rente»
Auch das ist nicht immer der Fall. Bei der Pensionierung errechnet sich die Rente aus der beruflichen Vorsorge aus dem angesparten Kapital und dem Umwandlungssatz der Pensionskasse. Hat jemand beispielsweise 700 000 Franken in der Kasse gespart und der Umwandlungssatz beträgt 5 Prozent, dann hat diese Person Anspruch auf eine jährliche Rente von 35 000 Franken.
Dies zeigt bereits, dass neben dem Umwandlungssatz auch das angesparte Kapital sehr relevant ist für die Rente. Deshalb ist es auch so wichtig, wie die Pensionskassen das Sparkapital ihrer Versicherten verzinsen – schliesslich wächst so das Vermögen von Jahr zu Jahr. Bei der Verzinsung der Altersguthaben gibt es indessen zwischen den Vorsorgeeinrichtungen grosse Unterschiede. Auch hierauf sollten die Versicherten ein Auge werfen.
Auch die Anlagepolitik und die entsprechende Performance von Pensionskassen ist ein wichtiger Faktor, der das Vorsorgevermögen schneller oder langsamer wachsen lässt.
Thurnherr weist darauf hin, dass ein hoher Umwandlungssatz finanziert werden muss – und im Zweifel gehe er zulasten der Verzinsung, die eine Pensionskasse ihren Versicherten auf ihre Vorsorgeguthaben gewähre. «Man kann denselben Franken nicht zweimal ausgeben», sagt er. Gerade jüngere Versicherte sollten sich bewusst sein, dass es ihnen möglicherweise schade, wenn ihre Pensionskasse zu hohe Umwandlungssätze gewähre. Schliesslich führt dies zu einer verstärkten Umverteilung zugunsten der Rentner. Und ausserdem dürfte die Verzinsung des Vorsorgekapitals dann niedriger ausfallen.
4. «Vorsorgen lohnt sich erst, wenn man älter ist und einen höheren Lohn hat»
Dies stimmt beispielsweise für die Pensionskasseneinkäufe. Diese lohnen sich erst ab dem Alter von 50 Jahren, da dann die erreichte Steuerersparnis proportional verteilt auf die restlichen Jahre bis zur Pensionierung einen stärkeren Effekt hat. Tätigt man in jungen Jahren Einkäufe in die Pensionskasse, so wird der Steuerspareffekt verwässert.
Wer früh mit Sparen und Vorsorge anfängt, tut sich allerdings leichter, ein Vermögen aufzubauen. Dies liegt am Wunder des Zinseszinses. Er sorgt dafür, dass die Erträge aus einer Geldanlage erneut investiert werden und so für weitere Erträge sorgen. In der Folge verstärkt sich der Effekt von Jahr zu Jahr.
5. «Wer gleich viel verdient, gleich lang arbeitet und gleich viel einbezahlt, bekommt auch gleich viel Rente»
Dies mag so sein, wenn man in der gleichen Pensionskasse versichert ist. Sind zwei Arbeitnehmer aber unterschiedlichen Vorsorgeeinrichtungen angeschlossen, so ist dies nicht der Fall. Pensionskassen haben unterschiedliche Umwandlungssätze und verschiedene Verzinsungen. Auch die Beiträge der Arbeitgeber sind unterschiedlich grosszügig.
«Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Pensionskassen», sagt Schlaefli. Folglich sollte man sich als Versicherter unbedingt informieren, wie die Leistungen der eigenen Kasse gegenüber anderen Vorsorgeeinrichtungen sind. Dies gilt natürlich besonders bei einem Stellenwechsel. Die Leistungen der potenziellen neuen Vorsorgeeinrichtung sind unbedingt einzukalkulieren.
6. «Die zweite Säule gilt für alle»
Das stimmt nicht. Es gibt gewisse Beschränkungen, wer in der beruflichen Vorsorge versichert ist und wer nicht.
Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ausführt, gilt die obligatorische Vorsorge im BVG für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in der AHV versichert sind und mindestens 22 050 Franken pro Jahr verdienen. Sie beginnt, wenn die Person die Erwerbstätigkeit anfängt und startet frühestens mit Vollendung des 17. Lebensjahres.
Im Falle eines Volks-Jas zur BVG-Reform würde die Eintrittsschwelle von 22 050 auf 19 845 Franken gesenkt. Dies soll die Altersvorsorge von Personen mit niedrigen Einkommen verbessern.
«Bis zum Erreichen des 24. Altersjahres decken die Beiträge nur die Risiken Tod und Invalidität ab. Ab dem Alter von 25 Jahren wird zusätzlich für die Altersrente angespart», präzisiert das BSV. Zudem sind gewisse Personengruppen der obligatorischen Vorsorge nicht unterstellt. «Selbständige können, müssen sich aber nicht in der zweiten Säule versichern», sagt Keserü.
Wie das BSV ausführt, sind auch Arbeitnehmer mit einem befristeten Arbeitsvertrag von höchstens drei Monaten der obligatorischen Vorsorge nicht unterstellt, genauso wenig wie im eigenen Landwirtschaftsbetrieb tätige Familienmitglieder. Dasselbe gilt für Personen, die laut der Invalidenversicherung (IV) mindestens zu 70 Prozent erwerbsunfähig sind.
7. «Ich würde lieber selbst anlegen können und somit mehr Rendite erzielen»
Manche Versicherte gehen davon aus, sie würden höhere Renditen erzielen als ihre Pensionskassen, wenn sie die Vorsorgegelder doch nur selber anlegen könnten.
Dagegen sprechen zunächst einmal wissenschaftliche Studien, laut denen viele Privatinvestoren mit ihren Geldanlagen ziemlich ernüchternde Renditen erzielen.
Versicherte sollten zudem beachten, dass sie bei der Pensionskasse einen Kapitalschutz auf ihre Anlagen haben, sagt Thurnherr. Ein gutes Beispiel sei das Jahr 2022. Hier haben Privatanleger oftmals mit ihren Investitionen in Aktien oder Anleihen viel Geld verloren, während ihre Guthaben bei der Pensionskasse sogar noch positiv verzinst wurden.
Als Versicherter hat man in der Pensionskasse ein Sicherheitsnetz, sagt auch Schlaefli. «Es gibt ein Risiko, dass eine Kasse saniert werden muss und man entsprechende Beiträge hierzu beisteuern muss. Aber dieses ist relativ klein», sagt er.
«Auch haben Privatanleger zu vielen der von Pensionskassen eingesetzten Anlagen keinen Zugang, beispielsweise zu Private Equity oder Infrastrukturanlagen – und wenn, dann zu sehr hohen Kosten», sagt Thurnherr. Grossinvestoren wie Pensionskassen erhielten von den Produktanbietern viel bessere Konditionen als Privatanleger und zahlten folglich auch niedrigere Gebühren. Kleinanleger sind für diese hingegen «kleine Fische».
Bei Kritik an den niedrigeren Umwandlungssätzen der Pensionskassen solle man sich zudem vor Augen halten, dass diese Sätze deutlich niedriger seien, wenn man das Geld privat in eine Versicherung investiere, sagt Thurnherr. Hier könne man mit Umwandlungssätzen in der Grössenordnung von 3 Prozent rechnen, sagt er.