Die Europäer beschleicht das Gefühl, dass alles dem Untergang geweiht ist: die Beziehung zu den Amerikanern, die Nato, der Westen. Nun will Europa selbst Führungsmacht sein. Bis anhin ist man vor allem Grossmacht im Moralisieren.
Es ist die Zeit der Hellseher angebrochen. Der Westen sei zu Ende, liest man. Manche Kommentatoren wie der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer haben sogar den genauen Moment erspürt. Das Ende des Westens sei am 28. Februar besiegelt worden, meint Fischer, mit jener bizarren Szene im Oval Office: Wolodimir Selenski wollte mit den Amerikanern vor laufender Kamera diskutieren. Worauf ihn J. D. Vance aufforderte, Dankbarkeit und Respekt vor seinem Herrn zu zeigen. Am Ende schmissen die Amerikaner Selenski aus dem Weissen Haus, und Trump kommentierte: «This is going to be great television.»
Jener Moment habe «den Bruch der westlichen Wertegemeinschaft» für alle sichtbar gemacht, Europa müsse nun ein eigenes Verteidigungsbündnis gründen, glaubt auch der grosse Historiker des Westens Heinrich August Winkler. Die dramatische Ausdeutung dieser Szene ist in Deutschland besonders populär. «Wir sind allein», lässt der CSU-Politiker Manfred Weber verlauten. Friedrich Merz, der voraussichtlich nächste Kanzler von Deutschland, sagt, das Schicksal Europas sei der amerikanischen Administration «weitgehend gleichgültig». Vor allem aber hat Merz diese Szene politisch genutzt: Noch im Wahlkampf hatte er versprochen, die Schuldenbremse nicht anzufassen. Jetzt setzt er ein Schuldenpaket von 500 Milliarden Euro um, das er beschönigend «Sondervermögen» nennt. Denn Deutschland müsse nun von einer «schlafenden zu einer führenden Mittelmacht» werden.
Die Mühen der russischen Armee
Der deutsche Aktivismus hat wie oft positive und negative Seiten. Deutschland scheint nun endlich willens, sich um die eigene Verteidigung zu kümmern. Das ist ein Fortschritt. Die Amerikaner mahnen die Europäer schon seit mehr als zwei Jahrzehnten dazu. Besonders ernst genommen hat man das aber nicht. Selbst als die Europäer die russische Gefahr und einen Krieg gegen die Freiheit beschworen, rüsteten sie nur homöopathisch auf. Das gehört zum Irritierenden der europäischen Politik: Nicht einmal kollektive Angst führt zu politischem Handeln.
Das könnte damit zusammenhängen, dass zumindest die Mitteleuropäer letztlich nicht an eine akute russische Gefahr glauben. Die imperialistischen Absichten Russlands und Moskaus permanenter Wille zum Krieg sind offensichtlich. Gleichzeitig müht sich Putins Armee jetzt seit drei Jahren im Osten der Ukraine ab. Es ist schwer vorstellbar, wie diese Armee die Ukraine kontrollieren, die Polen überrennen und plötzlich vor Berlin stehen soll. Und dennoch ist es richtig, dass die Europäer ihre Vorkehrungen treffen.
Lagebeurteilung deutscher Moralspezialisten
Das Entsetzen darüber, wie mies Trump die Ukrainer behandelt hat und wie schamlos er russische Desinformation verbreitet, ist in Europa gewaltig. Dabei scheinen viele Europäer vergessen zu haben, wie passiv und gleichgültig der Kontinent selbst der Ukraine gegenübergestanden ist. Als die Russen 2014 die Krim annektierten, wurde dies mit einem Schulterzucken hingenommen. Wer damals politische Talkshows in Deutschland schaute, stiess nicht selten auf die These: Was ist eigentlich das Problem, die Krim hat doch schon immer zu Russland gehört?
Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt verteidigte die Annexion der Krim und sagte, es sei ein Irrtum, zu glauben, dass es ein Volk der Ukrainer mit einer eigenen Identität gebe. Der damalige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier warnte zwei Jahre später vor dem «Säbelrasseln der Nato». Deutschland bezog weiter russisches Gas, liess die Nord-Stream-2-Pipeline bauen und gab dieser Politik einen rührend-idealistischen Anstrich: «Wandel durch Handel». Dabei war längst klar, dass sich Putin nicht wandelte. Zumindest nicht zum Guten.
Journalisten und Politiker lieben es, Zäsuren und Zeitenwenden zu verkünden. Wie müsste man diese Politik der letzten Jahre benennen? Vielleicht als das ganz normale europäische Versagen.
Zu Recht blicken die Europäer skeptisch auf Trump, einen Präsidenten, der über die EU sagt, sie sei gegründet worden, «um die USA zu verarschen». Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieses Europa bis anhin vor allem eine Führungsmacht im Moralisieren ist. Eine zweifelhafte und unstete noch dazu, wie die Geschäfte mit Russland zeigen. Bis anhin ist die EU eine supranationale Organisation der warmen Worte, die weder ihren Bürgern (in der Migrations- und Grenzpolitik) noch ihren politischen Partnern (man denke an die Ukraine) Sicherheit bieten kann.
Merz und der Joschka-Fischer-Modus
So richtig die Initiative der Europäer zur Selbstverteidigung ist, so falsch ist die frühzeitige Verabschiedung von Amerika. Denn die Europäer müssen nun Zeit gewinnen, um die militärische Selbstertüchtigung zu schaffen. Noch sind die Europäer auf die Amerikaner angewiesen, umso mehr sollten sie sich um enge Beziehungen bemühen. Keir Starmer und Emmanuel Macron haben dies verstanden und äussern sich vorsichtiger zum transatlantischen Verhältnis.
Friedrich Merz hingegen handelt im Joschka-Fischer-Modus: Der Westen ist tot, deshalb brauche ich Milliarden! Angesichts seiner neuen Anwandlungen zum Führer der freien Welt interessiert ihn sein Geschwätz von gestern nicht mehr. Gleiches scheint für die deutsch-amerikanische Beziehung zu gelten. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Deutschland von den Amerikanern befreit wurde. Nun scheint Merz sein Land schon als das bessere Amerika zu verstehen.
Tatsächlich ist die Nato vitaler, als man angesichts der jüngsten Diskussionen denken könnte. Der amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth hat bei einem Treffen in Brüssel eine unmissverständliche Ansage gemacht: Die Europäer sollen sich um Europa kümmern, die USA konzentrieren sich auf China. Die Amerikaner suchten einen Frieden in der Ukraine, erläuterte Hegseth, die Wiederherstellung des ursprünglichen Territoriums sei allerdings illusorisch.
Angesichts dieser Situation bleibt den Europäern nur, aufzurüsten und die essenzielle Verbindung zu den Amerikanern noch möglichst lange aufrechtzuerhalten. Für die Ukrainer wiederum kann es eigentlich nur noch um Sicherheitsgarantien gehen. Die Europäer müssen eine Situation schaffen, in der eine weitere Aggression Putins aussichtslos bleibt.
Der Präsident als Weltentertainer
Wer permanent warnt, wird mit seinen Warnungen irgendwann recht behalten. Das ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Vielleicht wird gerade tatsächlich der Zusammenbruch des Westens und der Nato abgewickelt, wie deutsche Propheten zu wissen glauben, vielleicht ist die transatlantische Verbindung aber auch zäher. Zum Wesen der Zeit gehört, dass sie schwer zu deuten ist. Trump potenziert diese Unsicherheit noch. Ihm ist vieles zuzutrauen und auch das Gegenteil. Umso mehr ist politischen Experten zu misstrauen, die glauben, die Gegenwart und die Zukunft glasklar ausdeuten zu können. Oft steckt dahinter ohnehin ein politisches Kalkül: Sei es die Legitimation einer gigantischen Verschuldung oder die Darstellung der eigenen moralischen Überlegenheit.
Die Vergangenheit ist keine Versicherung für die Zukunft. Nüchtern betrachtet, hat Trump aber stets weniger Schaden angerichtet, als prognostiziert wurde. Die amerikanischen Institutionen hat er nicht zerlegt und der Ukraine keinen Diktatfrieden aufgezwungen, seine Friedensbemühungen sind noch nicht einmal gescheitert. Bei allen Liebesgrüssen, die Trump nach Moskau sendet: Es würde erstaunen, wenn die Beziehung zu Putin in den kommenden Monaten so harmonisch bleiben würde.
Die Trumpsche Disruption war auf verbaler Ebene bisher deutlich imposanter als auf der Ebene des tatsächlichen politischen Handelns. Kurz, er ist ein Bluffer und Weltentertainer. «‹Shalom Hamas› means Hello and Goodbye», so fing seine angeblich letzte Warnung an die palästinensischen Terroristen an. Ein gewisser Comedyfaktor ist meistens dabei, wenn sich Trump zu Wort meldet.
Vor allem ist der amerikanische Präsident in seinem Tun eine allgemeine Verunsicherung, ganz besonders für die Europäer. Auf dem alten Kontinent löst er das Gefühl aus, dass die Welt in Unordnung geraten ist. Dass alles auf dem Spiel steht. Sein Genre ist das Drama, und seine Politik löst melodramatische Reaktionen aus.
Das Ende der Welt, Teil 2
Eigentlich ist die Welt schon vor acht Jahren zugrunde gegangen. Der «Spiegel» zeigte damals auf seinem Cover Donald Trump, wie er als Feuerball auf die Erde zurast – «Das Ende der Welt (wie wir sie kennen)». Wenig später inszenierte ihn das deutsche Nachrichtenmagazin mit einer Machete: Nun köpfte er die Freiheitsstatue. Dann vergingen acht Jahre – Trump stritt seine Abwahl ab und stachelte seine Anhänger an, das Capitol zu stürmen. Joe Biden übernahm für vier Jahre die Führung der freien Welt. Dann wurde Trump wiedergewählt in einer ordentlichen, demokratischen Wahl. Die Schwarzmaler hatten sich geirrt und warnen trotzdem weiter, als hätten sie recht gehabt.
Möglicherweise ist auf Amerika kein Verlass mehr, darauf müssen sich die Europäer jetzt einstellen. Dass aber auf die Europäer Verlass sein soll, das müssen sie der Welt erst beweisen.