Das von der Terrororganisation kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza spricht von bisher über 30 000 Toten. Dabei deutet viel darauf hin, dass die Hamas die Zahlen erfindet.
Die Zahl der zivilen Opfer in Gaza steht seit Beginn des Krieges im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit. Die wichtigste Quelle für die Daten ist das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium im Gazastreifen, das inzwischen von mehr als 30 000 Toten spricht, von denen die meisten Kinder und Frauen sein sollen. Diese Zahl wird in den Medien meist unkritisch zitiert.
Kürzlich hat auch die Regierung Biden die Zahl der Hamas legitimiert. Als der Verteidigungsminister Lloyd Austin bei einer Anhörung des Ausschusses für Streitkräfte des Repräsentantenhauses gefragt wurde, wie viele palästinensische Frauen und Kinder seit dem 7. Oktober getötet worden seien, nannte er die Zahl von «über 25 000». Das Pentagon stellte schnell klar, dass der Minister «eine Schätzung des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums zitierte».
US-Präsident spricht von «öffentlich zugänglichen Daten»
Präsident Biden selbst hatte diese Zahl zuvor genannt und behauptet, dass «zu viele, zu viele der über 27 000 in diesem Konflikt getöteten Palästinenser unschuldige Zivilisten und Kinder waren, darunter Tausende von Kindern». Das Weisse Haus erklärte ausserdem, der Präsident habe sich «auf öffentlich zugängliche Daten über die Gesamtzahl der Opfer» bezogen.
Das Problem mit diesen Daten ist Folgendes: Die Zahlen sind nicht real. Das ist für jeden offensichtlich, der weiss, wie natürliche Zahlen funktionieren. So ist es möglich, dass es sich bei den Opfern nicht in erster Linie um Frauen und Kinder handelt – und dass die Mehrheit der Getöteten Hamas-Kämpfer sind.
Es sind zwar nicht viele Daten verfügbar, aber diese reichen aus, um die Statistiken anzuzweifeln. Vom 26. Oktober bis zum 10. November 2023 veröffentlichte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen tägliche Opferzahlen, die sowohl eine Gesamtzahl als auch eine spezifische Anzahl von Frauen und Kindern enthalten.
Verdächtig konstanter Anstieg
Zunächst muss man die gemeldete «Gesamtzahl» der Todesfälle betrachten. Die Gesamtzahl der Todesfälle nach Datum nimmt in den Statistiken der Hamas fast linear zu. Der Anstieg ist verdächtig regelmässig, denn diese Regelmässigkeit kommt in der Wirklichkeit kaum vor. Man würde erwarten, dass die Zahlen von Tag zu Tag ziemlich stark schwanken. Dies, weil die Angriffe der israelischen Armee variieren.
Durchschnittlich meldete die Hamas in diesem Zeitraum 270 Opfer pro Tag, mit Abweichungen von etwa 15 Prozent. Das ist eine auffallend geringe Schwankung. Würde die Realität abgebildet, müsste es Tage geben, an denen die Zahl doppelt so hoch oder höher ist – und andere, an denen sie nur halb so hoch oder niedriger ist.
Möglicherweise gibt das Gaza-Ministerium gefälschte tägliche Zahlen heraus, die zu wenig variieren, weil es keine klare Vorstellung vom Verhalten der natürlich vorkommenden Zahlen hat. Leider stehen keine verifizierten Kontrolldaten zur Verfügung, um diese Schlussfolgerung zu überprüfen, aber die Details der Hamas-Statistiken machen die Angaben verdächtig.
Während sich die täglichen Opferzahlen erfahrungsgemäss stark unterscheiden müssten, dürfte es zwischen den einzelnen Opfergruppen (Frauen, Kinder, Männer) wenig Schwankungen geben. Das ist eine grundlegende statistische Tatsache über die Variabilität des Zufalls. An Tagen, an denen es viele weibliche Todesopfer gibt, sollten auch viele getötete Kinder zu beklagen sein – und umgekehrt. In den Statistiken der Hamas gibt es diese Korrelation nicht. Vielmehr nimmt die Zahl der angeblich getöteten Kinder linear zu. Bei den Frauen dagegen variiert die Zahl der Opfer stark. Auch das deutet darauf hin, dass die Zahlen nicht stimmen.
Zahl getöteter Frauen und Kinder zu hoch
Durch die mal stärkere, mal schwächere Bombardierung Gazas durch die israelische Armee sollte sich auch die Zahl der getöteten Männer in einer ähnlichen Grössenordnung bewegen. Doch die Daten zeigen nichts dergleichen. Vielmehr wurden gemäss der Statistik der Hamas an drei Tagen fast keine Männer getötet, während die Zahl der getöteten Frauen an jenen Tagen am höchsten war.
Was heisst das nun? Die Beweise sind zwar nicht eindeutig, aber vermutlich wurden die Zahlen nach einem Verfahren ermittelt, das nichts oder nur wenig mit der Realität zu tun hat. Wahrscheinlich hat sich das Hamas-Ministerium willkürlich auf eine tägliche Gesamtzahl geeinigt. Die täglichen Gesamtzahlen steigen zu konstant an, als dass sie wahr sein könnten. Insgesamt sollen etwa 70 Prozent der Opfer Frauen und Kinder sein, wobei dieser Anteil von Tag zu Tag willkürlich aufgeteilt wurde.
Sind tatsächlich 70 Prozent der Opfer Frauen und Kinder, so liegt diese Zahl weit über den Zahlen, die bei früheren Konflikten mit Israel gemeldet wurden. Kommt hinzu: Wenn 25 Prozent der Bevölkerung erwachsene Männer sind, hat Israel die Hamas-Kämpfer entweder nicht erfolgreich eliminiert, oder die Zahl der erwachsenen männlichen Opfer ist extrem niedrig.
Dies allein deutet darauf hin, dass die Zahlen ungenau und sehr wahrscheinlich gefälscht sind. Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren. Damit wären mehr als 20 Prozent der bisher Getöteten Angehörige der Hamas gewesen. Dies ist nicht möglich – es sei denn, Israel tötet keine Männer, die nicht Kämpfer der Hamas sind. Oder die Hamas behauptet, dass fast alle Männer in Gaza Hamas-Kämpfer sind.
12 000 getötete Hamas-Kämpfer?
Einige Kommentatoren haben eingeräumt, dass die Zahlen der Hamas bei früheren Kämpfen mit Israel etwa stimmten. Dennoch ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmass betrifft, völlig anders. Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht – und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen.
Bei der offiziellen palästinensischen Zählung der Todesopfer macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden.
Eine Gruppe von Forschern der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health hat die Berichte der Hamas mit Daten über getötete UNRWA-Mitarbeiter verglichen. Sie argumentierten, dass die Zahlen der Hamas nicht übertrieben sein könnten, da die Todesraten unter den UNRWA-Mitarbeitern ungefähr gleich seien.
Ihre Argumentation stützte sich jedoch auf eine entscheidende und nicht überprüfte Annahme: dass UNRWA-Mitarbeiter nicht häufiger getötet würden als die allgemeine Bevölkerung. Diese Annahme geriet ins Wanken, als aufgedeckt wurde, dass ein Teil der UNRWA-Mitarbeiter mutmasslich mit der Hamas in Verbindung steht und die Hamas UNRWA-Gebäude als Infrastruktur benutzt. Einige sollen an dem Massaker vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein.
Man wird die Wahrheit wahrscheinlich nie kennen. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist vermutlich stark übertrieben. Israel schätzt, dass bisher mindestens 12 000 Hamas-Kämpfer getötet wurden. Wenn sich diese Zahl auch nur einigermassen bewahrheitet, dann ist das Verhältnis von Opfern unter den nicht am Kampf Beteiligten zu den Kämpfern bemerkenswert niedrig: höchstens 1,4 zu 1 oder sogar 1 zu 1.
Gemessen an den historischen Massstäben der urbanen Kriegsführung, bei der sich Kämpfer unter die Zivilbevölkerung mischen, ist dies ein bemerkenswerter und erfolgreicher Versuch, unnötige Verluste an Menschenleben zu vermeiden und gleichzeitig einen unerbittlichen Feind zu bekämpfen, der sich mit Zivilisten schützt.
Abraham Wyner ist Professor für Statistik und Datenwissenschaft an der Wharton School an der University of Pennsylvania. Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache in der Zeitschrift «Tablet» unter tabletmag.com. Nachgedruckt mit Genehmigung.