Die Terrororganisation wirft Israel vor, die Bedingungen des Abkommens gebrochen zu haben. Die israelische Armee bereitet sich auf jedes Szenario vor. Doch es gibt Gründe, die gegen neue Kampfhandlungen sprechen.
Nach nur drei Wochen könnte die Waffenruhe im Gazastreifen schon vorüber sein. Am Montagabend kündigte der Sprecher des militärischen Arms der Hamas an, die für Samstag angesetzte Freilassung weiterer israelischer Geiseln auszusetzen. Die Terrororganisation wirft Israel vor, die Bedingungen des Abkommens gebrochen zu haben. Israel soll die Rückkehr der Menschen in den Norden des Küstenstreifens verzögert, seinen Beschuss in mehreren Gebieten fortgesetzt sowie die Einfuhr humanitärer Hilfe verzögert haben.
Israels Antwort liess nicht lange auf sich warten: Wenige Minuten später erklärte Verteidigungsminister Israel Katz, die Ankündigung der Hamas sei ein Verstoss gegen das Abkommen zur Waffenruhe. «Ich habe die israelischen Streitkräfte angewiesen, sich auf jedes Szenario vorzubereiten.» Israelische Beamte bestreiten die Vorwürfe der Hamas. Die Wiederaufnahme des Kriegs im Gazastreifen ist wahrscheinlicher geworden.
Das Geiselabkommen könnte kollabieren
Die von der Hamas aufgelisteten angeblichen israelischen Verstösse gegen das Waffenstillstandsabkommen hat es so nicht gegeben. Zwar hat Israel die Rückkehr der vertriebenen Palästinenser in den Norden des Gazastreifens verzögert, allerdings erst nachdem die Hamas ihrerseits das Abkommen gebrochen hat. Auch beschoss Israel Palästinenser im Gazastreifen nach der Waffenruhe. Jedoch hatten sich diese den israelischen Truppen genähert oder benutzten eine Route in den Norden, die nicht in der Übereinkunft vorgesehen war.
In Israel wächst derweil die Angst vor einem Kollaps des Geiselabkommens. Immer noch befinden sich 73 Menschen im Gazastreifen, die am 7. Oktober von der Hamas verschleppt wurden. Am Montagabend blockierten Hunderte Menschen nach der Ankündigung die Begin-Strasse in Tel Aviv, eine der Hauptverkehrsachsen der Metropole.
Das Forum der Geiselfamilien appellierte an die vermittelnden Staaten, das Abkommen umzusetzen. «Der schockierende Zustand der am vergangenen Samstag freigelassenen Geiseln lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit drängt», heisst es von der Organisation. Die zuletzt freigekommenen Israeli waren abgemagert und berichteten nach ihrer Freilassung von Folter.
Was bezweckt die Hamas – und wie reagiert Israel?
Die Hamas steht zunehmend unter Druck, vor allem weil US-Präsident Donald Trump mehrmals bekräftigt hat, den Gazastreifen «übernehmen» und entvölkern zu wollen. «Ich denke, dass die Ankündigung der Hamas vor allem als Signal zu verstehen ist und nicht als erster Schritt zur Wiederaufnahme des Kriegs», sagt Michael Milshtein im Gespräch. Der ehemalige Leiter der Palästinenserabteilung des israelischen Militärgeheimdiensts hält das Statement vor allem für Verhandlungstaktik. «Die Hamas will Israel, den USA und der arabischen Welt zeigen, dass nicht ohne sie über eine Zukunft des Gazastreifens entschieden werden soll.»
Für diese Einschätzung spricht, dass die von der Hamas genannten «Verstösse» einfach behoben werden könnten. Palästinenser können bereits nahezu frei in den Norden Gazas zurückkehren, und Israel beschiesst den Gazastreifen nicht willkürlich. Sollte die Hamas vor allem mehr humanitäre Hilfslieferungen verlangen, liesse sich schnell eine Lösung finden. Eine nicht benannte Hamas-Quelle sagte dem israelischen Journalisten Suleiman Maswadeh zudem, die Organisation wolle das Abkommen nicht brechen, sondern nur verzögern.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu beriet sich am Montagabend mit Armee und Geheimdiensten und zog eine für Dienstag geplante Sitzung des Sicherheitskabinetts auf die Morgenstunden vor. Netanyahus Büro teilte mit, dass Israel seine Seite des Abkommens einhalten werde, jedweden Verstoss allerdings sehr ernst nehme.
Dass Netanyahu das Abkommen mit der Hamas leichtfertig platzen lässt, ist unwahrscheinlich. Obwohl er lange für eine Fortsetzung des Kriegs plädiert hat, ist er sich der nun veränderten öffentlichen Meinung im Land bewusst. Laut einer Umfrage vom Freitag befürworten 70 Prozent der Bevölkerung, dass Israel die Waffenruhe bis zur zweiten Phase fortführt. Diese sieht ein permanentes Ende des Kriegs vor. Die Bilder der ausgemergelten Geiseln vom Samstag werden viele in ihrer Meinung bestärkt haben. Eine Verzögerung oder ein Ende der Waffenruhe dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit den Tod der verbliebenen Verschleppten bedeuten.