Tastaturen und neu auch Touchscreens verdrängen die Handschrift. Wie verändert das unser Denken, unsere Erinnerung und unsere Kreativität?
Erfahrene Tipper schreiben auf digitalen Geräten schneller und effizienter als von Hand. Im Nu bearbeiten, strukturieren, organisieren und verteilen sie ihre Texte. Deshalb drängen Tastaturen und Touchscreens die Handschrift an den Rand ihrer Existenz.
Erklingt das Klagelied auf den Verlust der Handschrift, erwacht sie zumindest in Sprachbildern zu neuem Leben. So sagt man, die Handschrift verkümmere, als wäre sie eine vernachlässigte Pflanze. Oder sie sterbe aus, gleich einer bedrohten Tierart. Nur durch Pflege sichere man ihr Überleben. Doch ist die Handschrift tatsächlich eine Spezies, die wir schützen müssen? Und wozu? Müssten nicht selbst analoge Nostalgiker akzeptieren, dass Kulturtechniken an Wichtigkeit und Wert verlieren können? Jedermann möchte lieber mit dem Laserstrahl als mit einem Faustkeil operiert werden.
Der Abgesang auf die Handschrift ist mindestens so alt wie eine Erfindung des Waffenherstellers Remington. Dieser gab 1876 den Startschuss für die erste Serienproduktion einer mechanischen Schreibmaschine. Endlich konnten Massen von Menschen Briefe schnell und leserlich schreiben. Postwendend folgten Warnungen vor dem Zerfall von Kultur und Sitte. Ein Bedenkenträger kritisierte sogar, die neue Technik bedrohe die Männlichkeit, da sie die Feder als «Symbol männlichen geistigen Schaffens» durch eine Maschine ersetze.
Das Notat vermochte den Fortschritt nicht zu stoppen. Heutzutage wird ganz viel über digitale Geräte von sich gegeben. Impulsiv. Fragmentiert. Iconisiert. Und manchmal bereut, kaum ist «send» gedrückt.
«Wir schreiben heute privat und beruflich so viel wie nie zuvor. Nur schreiben wir seltener mit Stift und Papier», sagt Andi Gredig. Der Zürcher Sprachwissenschafter promovierte 2020 über das «Schreiben mit der Hand». Zum Stift greifen wir vor allem noch für Notizen, To-do-Listen, Kondolenz- und Geburtstagskarten «sowie für Unterschriften, die in vielen offiziellen und rechtlichen Kontexten weiterhin nötig sind», sagt Gredig. Seltener hingegen für lange, zusammenhängende Texte.
Die Schule setzt auf Schnelligkeit und Digitalisierung
Das wird sich kaum ändern. Die Volksschule schenkt dem Schreiben von Hand so wenig Beachtung wie nie zuvor in ihrer 150-jährigen Geschichte. Die Schönschreibstunden wurden längst gestrichen. Das Schriftbild wird nicht mehr bewertet. Der Zwang zur Zier wurde zerschlagen: Die schnell schreibbare, auf Klarheit und individuelle Handhabung hin konzipierte Schweizer Basisschrift ersetzte in allen Deutschschweizer Kantonen die schnörkelreiche Schnürlischrift. Der Lehrplan 21 verlangt lediglich, dass die Schülerinnen und Schüler «in einer persönlichen Handschrift leserlich und geläufig schreiben lernen». Für Beat Schwendimann, den Leiter Pädagogik des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, reicht das.
Er sagt: «Die Unterrichtszeit ist begrenzt. Der Fächerkanon ist breiter als früher, als er aus Lesen, Schreiben und Mathematik bestand.» Wenn in der Schule geschrieben wird, dann nicht mehr ausschliesslich in Deutsch und auf Papier, sondern in allen Fächern, «gerade so, wie es anfällt», sagt Schwendimann: «In der Schule schreibt man nach wie vor von Hand. Doch das meiste davon wird wie später im Berufsleben auf dem Computer oder auf dem Tablet geschrieben.»
Finnland, das in Pisa-Studien lange mit Bestnoten bedacht wurde, erregte Aufsehen, als es 2016 die Handschrift im Unterricht zugunsten digitaler Kompetenzen zurückstellte. Schüler sollten die Druckschrift lernen und sich dann aufs Tippen konzentrieren, um fit für die digitale Welt zu sein.
Die Schrift trieb die kulturelle Evolution voran
«Von Hand zu schreiben, zählt zu den komplexesten Fähigkeiten der menschlichen Hand», sagt Heinz von Niederhäusern, pensionierter Psychomotorik-Therapeut aus Zürich. «Eine Handschrift ist so individuell wie ein Fingerabdruck und damit zutiefst persönlich.» Obwohl das Schriftbild stark von der jeweiligen Situation des Schreibenden abhängen kann, bezweifelt von Niederhäusern, dass man daraus den Charakter ableiten kann, wie das Grafologen in den 1970er bis 1990er Jahren inflationär betrieben, um die richtigen Mitarbeiter für Firmen zu rekrutieren. Grafologische Gutachten halten wissenschaftlichen Kriterien nicht stand.
Von Niederhäusern sagt: «Die Schrift ist nicht nur Produkt der kulturellen Evolution, sondern auch ihr Motor.» Vor 5000 Jahren begannen die Sumerer mit Keilschriften und die Ägypter mit Hieroglyphen zu schreiben. Mit der Sesshaftigkeit waren noch vor der Erfindung der ersten Schriften komplexe Gesellschaften entstanden, die Gesetze und Regeln schriftlich festhielten – nicht mehr nur mündlich. Um 1200 v. Chr. entwickelten die Phönizier ein Alphabet mit 22 Konsonanten. Die Griechen übernahmen es, fügten Vokale hinzu, verbesserten die Lesbarkeit und machten das Schreiben präziser. Diese Entwicklung erweiterte ihre Kommunikationsmöglichkeiten und förderte das abstrakte Denken.
Die Römer passten das griechische Alphabet an, schufen das lateinische und verbreiteten es in ihrem Riesenreich. Es bildet bis heute die Grundlage unserer Schrift. Im Mittelalter vervielfältigten Mönche religiöse und wissenschaftliche Texte, bewahrten so Wissen und trieben die geistige Entwicklung mit kunstvoller Schrift voran. Beeinflusst von den Ideen der Aufklärung, entstanden in Europa hauptsächlich im 18. und 19. Jahrhundert öffentliche Schulen, die systematisch Lesen und Schreiben lehrten. «Wie sehr Schreiben und Denken miteinander zusammenspielen, zeigt, dass in manchen dieser Schulen nur Lesen gelernt wurde, nicht aber Schreiben. Das galt der Obrigkeit als zu subversiv», sagt von Niederhäusern.
Mit Gutenbergs Buchdruck um 1452 verlagerte sich das Schreiben auf maschinelle Verfahren, was den Zugang zu Schriftlichem erleichterte. Die Schwarze Kunst vermochte dem Zauber des Schreibens von Hand nichts anzuhaben – bis die Schreibmaschine den Büroalltag revolutionierte und zuletzt das Smartphone weite Teile des Lebens.
Der Gemütszustand ist auf dem Display nicht ersichtlich
Heinz von Niederhäuserns Daumen und Zeigefinger greifen nach einem Stift und halten ihn wie eine Pinzette, der Mittelfinger waltet als Stützfinger, Ring- und Kleinfinger beteiligen sich leicht eingerollt an der Haltung des Stifts, ein Tanz beginnt. Gelenke beugen und strecken sich. Mit sachtem Druck vollführt das Handgelenk eine Pendelbewegung einwärts, dann auswärts. Die Hand und der Unterarm verschieben sich nach rechts. Alles Schreiben – das Formen der Buchstaben und der Schriftzug – ist eine Kombination beziehungsweise ein Ineinanderfliessen dieser drei Komponenten. 18 kleine und 15 lange Muskeln, 16 Gelenke von der Handwurzel bis zur Schulter und 24 Knochen sind am Schreiben beteiligt.
«Kein Bewegungsorgan ist so fein abgestimmt und vielseitig wie die Hand», sagt von Niederhäusern. Die kleinste Unsicherheit in der Bewegung, und der Strich verwischt, der Buchstabe kippt, das Bild der Schrift gerät ins Wanken.
Tippt jemand am Computer ein A oder ein Z, genügt ein Fingerdruck auf die entsprechende Taste. Selbst wenn man angeheitert auf die Taste haut, erscheint ein perfekt geformtes Z oder A. Der Gemütszustand des Tippenden hinterlässt keine Spuren auf dem Display, inspiriert aber auch nicht zu einem Einfall, der im besten Fall einen Schreibrausch begünstigt. Das ist der Knackpunkt beim schnellen Schreiben mit der Tastatur. Bei ihm bleiben motorische und kognitive Prozesse im Gehirn untätig, die beim langsamen Schreiben von Hand aktiviert werden.
Das Verknüpfen von Erinnerungen führt zu Neuem
Kinder, die Buchstaben mit der Hand schreiben, prägen sich deren Aussehen einfacher ein. Sie verbinden den Klang des repräsentierten Lautes mit der Bewegung und mit dem Gefühl des Kratzens des Stifts auf dem Papier. Im Gedächtnis bleiben aber auch so feine Dinge wie der Duft des Putzmittels im Klassenzimmer. «Dadurch entsteht im Gehirn ein feinmaschiges neuronales Netzwerk», sagt Lutz Jäncke, Neurowissenschafter an der Universität Zürich.
Wenn wir mit der rechten Hand schreiben, aktiviert das die linke Hirnhälfte, wo Motorik und Sprache liegen. In ihr laufen alle Informationen zusammen, die für das Schreiben nötig sind. «Die Kommunikationswege sind effizient, und die Verarbeitung erfolgt so schnell, dass sie viele weitere Informationen damit verknüpfen kann», sagt Jäncke. Beim Tippen hingegen müssen die Informationen zwischen den beiden Hirnhälften wechseln, weil beide Hände beteiligt sind. Ein störungsanfälliger Prozess, bei dem viele Informationen verlorengehen und «weniger Verknüpfungen stattfinden».
Lutz Jäncke vergleicht das neuronale Netz in unserem Hirn mit einem Fischernetz. Je engmaschiger es ist, desto mehr bleibt hängen. Das erhöht das Erinnerungsvermögen und ermöglicht mehr unerwartete Assoziationen. Ein Duft wie der eines Putzmittels (oder der Geschmack von in Tee getunkten Madeleines, denken wir nur an Marcel Prousts unerwarteten, lebendigen Zugang zu einer längst verlorenen Zeit) kann so plötzlich mit einem Gedanken verknüpft werden. Solche feinen Details verankern sich im Gedächtnis und fördern kreative Einfälle. Die Langsamkeit des Schreibens von Hand fördert diesen Prozess und erweist sich im Vergleich zur Schnelligkeit des Tippens als Vorteil fürs Denken, Erinnern, Kreativsein.
«Wer von Hand schreibt, schöpft mehr aus seinen Strichen und Kreisen», sagt Jäncke. Das belegen mehrere Studien. Eine der bekanntesten stammt von den beiden amerikanischen Psychologen Pam Müller und Daniel Oppenheimer. Sie untersuchten 2014 bei Studierenden, wie sich deren handschriftliche und digitale Notizen auf ihr Lernen auswirken.
Beim Abfragen von reinem Faktenwissen zeigten die Handschreiber und die Tipper keinen Unterschied. Sehr wohl aber beim konzeptionellen Wissen wie der Frage, wie sich Japan und Schweden bei der sozialen Gerechtigkeit unterscheiden würden. Da schwangen die von Hand Schreibenden schwungvoll obenaus. Dies lag daran, dass sie das Gehörte in eigenen Worten zusammenfassten, anstatt wortwörtlich niederzuschreiben. «Dazu verleitet unser Aufwand scheuendes, faules Hirn uns leicht, wenn wir auf der Tastatur schreiben», sagt Jäncke. Selbst wenn die Benutzer eines Laptops angewiesen wurden, keine wortwörtlichen Notizen zu erstellen, zeigte sich ein Nachteil im Konzeptwissen, da das Getippte näher am Vorgekauten war und das Lernen und eigenständige Denken dadurch eher behinderte.
Die Finnen konzentrieren sich mittlerweile in den Schulen nicht mehr nur aufs Tippen. Sie haben erkannt, dass handschriftliches Schreiben im Unterricht das Gedächtnis stärkt und die kognitive Entwicklung fördert. Viele finnische Schulen kombinieren daher Handschrift und digitales Schreiben, um eine ausgewogene Entwicklung zu unterstützen.
Die Entspanntheit des Briefeschreibens als Prinzip
Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter erlebte eine ähnliche Entwicklung. In den 1950er Jahren versuchte man, ihn als Linkshänder umzuerziehen. Die Lehrerin kapitulierte nach der dritten Stunde. Später störte ihn das Bild seiner handschriftlichen Texte, wenn er etwas korrigierte. «Der Text konnte so nicht objektiv beurteilt werden, zu viel Stallgeruch», sagt er. Deshalb griff er früh fast nur noch in die Tasten. Er schrieb journalistische Texte auf Kugelkopf-Schreibmaschinen, Werbeslogans auf einer Maschine mit Korrekturtaste, ein Drehbuch auf einem IBM-Computer und Romane auf Apple-Geräten. So entstanden 13 Bücher, alle verfasst in der Schriftart Courier, die an eine Schreibmaschinenschrift erinnert und gleich breite Buchstaben verwendet, was die Textmenge für den Druck einschätz- und auszählbar machte.
Als seine Frau an Krebs erkrankte und er sie zu ihren Untersuchungen begleitete, wollte er weniger Papier mit sich tragen. So begann er, den Roman «Melody» in Wartezimmern auf einem hybriden Gerät zu überarbeiten. Sein Tablet kombiniert handschriftliches Schreiben mit den Vorteilen der digitalen Welt: Es wandelt den mit einem Stift geschriebenen Text in einen getippten um und erstellt, wie Suter sagt, «ein distanziertes Typoskript». Seine mittlerweile verstorbene Frau sagte nach der Lektüre von «Melody», das sei anders als das, was er sonst schrieb. «Entspannter», sagt er. «Eher so wie ein von Hand verfasster Brief.» Auch den Krimi «Allmen und Herr Weynfeldt» schrieb er danach so.
Das Besondere an seinem Tablet ist die Schreibfläche, die die Haptik von Papier imitiert. Und dass das Remarkable-Gerät nur schreiben und Lesbares verwalten kann. Ein Internetbrowser und somit eine Form von Ablenkung fehlt. Suter kann sich ganz auf seinen Text konzentrieren. Zurzeit formuliert er auf dem Gerät die letzten Sätze des Romans «Wut und Liebe», der im April 2025 erscheinen wird.
«Unplugged» nennt er sein hybrides Schreiben. Ist das die Zukunft?
Diese wird weder vollumfänglich dem handschriftlichen Schreiben gehören noch dem Tippen auf der Tastatur oder einem hybriden Gerät. Mischformen werden auftreten. Die künstliche Intelligenz (KI) macht es zudem heute schon möglich, Texte zu diktieren. Das ist noch schneller als tippen, «erfordert aber eine enorme Arbeitsleistung des Gehirns», sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke. «Alles, was man sagen möchte, muss in den Grundzügen bereits vorgedacht, strukturiert sein.» Obschon: Die KI verbessert und vervollständigt bereits heute automatisch angefangene Sätze und Gedanken. Eine wahnsinnige Erleichterung! Um wie viel langsamer und langwieriger ist es, seine Gedanken von Hand zu formulieren, sich auszudrücken. Wer darauf verzichtet, verpasst die Chance, herauszufinden, was er denkt, aber aus guten Gründen nicht festhält.