Die europäischen Aktienmärkte befinden sich auf der Überholspur. Einen Makel haben aber auch sie.
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz ist Geschichte. Und ihr Verlauf hat Geschichte geschrieben.
Meine Position kann in zwei Punkte zusammengefasst werden:
- Die Politik ist der neue Elefant im Aktienmarkt.
Das ist eine Mustervorhersage. Dazu verweise ich auf meinen Beitrag vom 23. Januar.
- Achtung vor den Tücken von Schnellschüssen.
Das ist mein Verhaltenskodex. Darüber habe ich mich ausführlich in meinem Beitrag vom 7. November geäussert.
Was bedeutet das?
Ein Fixstern am Himmel in der Finanzwissenschaft ist Professor Andrew Lo. Seinem Buch «Adaptive Markets» hat er einen Untertitel dazugestellt, dessen Aktualität nicht zu unterschätzen ist: «Financial Evolution at the Speed of Thought». Genau darin dürfte unsere Herausforderung bestehen: Der Geschwindigkeit der Gedanken zu folgen, die nicht nur Eintagsfliegen sind, sondern neue Trends auslösen. Notabene gilt: Nicht die Nachricht ist wichtig, sondern was der Markt mit ihr macht.
Der Elefant im Laden
Der Elefant an den Börsen ist ähnlich einzuschätzen wie der Elefant im Porzellanladen. Das heisst, dass «langfristig» zunächst einmal kein brauchbarer Ansatz in diesem Umfeld ist.
In meiner Vorstellung ist mit dem Begriff «langfristig» ein mentaler Ansatz proklamiert, der sagt: Ich kaufe, was mir gefällt, um es über lange Zeit zu halten, komme was wolle.
Das ist im Prinzip immer falsch und in einer Zeit geopolitischer Umbrüche ganz besonders.
Richtig müsste es meiner Ansicht nach lauten: Ich kaufe, was komparative Vorteile aufweist, und behalte es, solange der komparative Vorteil bestehen bleibt.
Mehr als relative Stärke
Der komparative Vorteil ist mehr als nur die relative Stärke.
In praktisch jeder Marktphase sind mehr Aktien relativ stark, als es für ein gut strukturiertes Portfolio braucht.
Wenn die relativ schwachen Sektoren, Industrien, Regionen und Aktien aussortiert sind, sollen unter den relativ starken zusätzliche Kriterien zum Einsatz gelangen, um die Qual der Wahl in das Vergnügen der Wahl umzudrehen.
Dazu gehören selbstverständlich fundamentale Kriterien bezogen auf Branchen und Unternehmen – und im Jahr 2025 auch auf Politik.
Wie lange ich wo investiert bin, soll nicht eine von mir auferlegte Regel bestimmen, sondern soll davon abhängen, dass die im Voraus definierten technischen und fundamentalen Kriterien das Halten einer jeden Position rechtfertigen.
Aktienmärkte wittern MEGA
Denke ich an Europa, könnte ich schlaflose Nächte haben.
Ich denke aber im Zusammenhang meiner Anlagen nicht an Europa.
Ich denke an die Aktienmärkte weltweit und versuche zu verstehen, welche Perzepte jene bilden, die kaufen und verkaufen und damit den Lauf der Dinge an den Börsen bestimmen.
Der Weg dazu liegt in der Beobachtung, wo neue Schwärme entstehen und wachsen und wo sie stagnieren und zerfallen.
«Wo» bezieht sich auf Sektoren, Industrien und Regionen.
Die Beobachtung erfolgt über unser RSMV-Modell. Die Buchstaben stehen für relative Stärke, Sentiment, Momentum und Volatilität. Die Knochenarbeit erledigt der Computer, die finale Interpretation das Gehirn.
Dieses Modell und dessen Interpretation sagen mir, dass die Aktienmärkte etwas wittern, was als Aufbruch in Europa zu verstehen ist. Sozusagen als ein Wille zu «Make Europe Great Again».
RSMV spricht für MEGA
RSMV mündet in ein Rating. Das Rating des europäischen Aktienmarktes, alle Märkte umfassend, weist einen Faktor von 1,02 zum amerikanischen Aktienmarkt auf.
Vor einem Jahr sah es noch ganz anders aus. Diese Kennziffer lag bei 0,96.
Als erste Reaktion auf den Wahlausgang in den USA fiel das Rating am 11. November auf 0,86. Der dramatische Tiefpunkt wurde am 2. Dezember mit 0,82 erreicht. Um innerhalb von zweieinhalb Monaten von 0,82 auf 1,02 zu steigen, bedurfte es einer erheblichen «Schubumkehr».
In meiner Kolumne vom 7. November hatte ich davor gewarnt, auf Nachrichten zu reagieren. Das führt meistens zu Überreaktionen, die nicht nachhaltig sind. So geschehen auch nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten.
Soweit ein kurzer Abriss zur Kursdynamik.
Strukturell hat sich auch Wesentliches getan.
Vor einem Jahr wurde die Marktbreite Europas gegenüber den USA mit einem Faktor von 0,93 ausgewiesen. Am 11. November stand sie auf kläglichen 0,72, um am 2. Dezember auf ein selten gesehenes Rekord-Tief von 0,68 zu fallen.
Am Freitag lag diese Kennzahl bei 0,99.
Europa ist auf der Überholspur, überholt aber nur langsam. Dieses Bild setzt sich in den meisten Sektoren und Industrien fort.
MEGA sticht MAGA aus, ABER…
Das «ABER» bezieht sich auf eine Zahl, die ich oben nicht erwähnt habe: Nicht die relative, sondern die absolute Marktbreite liegt in beiden Regionen und in Asien-Pazifik in einem moderaten Bereich. Ende letzter Woche steht sie in Europa mit 61,4% und in Nordamerika mit 60,8% im Wind.
Die kapitalgewichteten Indizes liegen weit über den gleich gewichteten.
Das Rating des gleich gewichteten S&P 500 zum kapitalgewichteten S&P 500 weist einen Faktor von lediglich 0,889 auf, jenes des gleich gewichteten DJ Stoxx Europe 600 zum DJ Stoxx Europe 600 ein solches von 0,887. Der gleich gewichtete MSCI Welt steht auf 0,886 zum kapitalgewichteten MSCI Welt. Darin zeigt sich eine weltweite Präferenz für grössere Unternehmen, die den Vorteil geografisch verteilter Produktionsstätten haben.
Die Divergenzen zwischen unterschiedlichen Kategorien im Markt sind hoch. Das führen auch folgende Zahlen vor und bestätigen damit die Divergenzen zwischen gleich gewichteten und kapitalgewichteten Indizes:
Das Rating des schwächsten Sektors, Consumer Staples, zum stärksten, Financials, wird mit 0,85 ausgewiesen. Die Marktbreite von Consumer Staples zu Financials beträgt 0,408.
Die globale Marktbreite liegt bei lediglich 55,9%, jene des stärksten Sektors zum schwächsten beim 1,56-fachen.
Das alles und noch viele weitere Beobachtungen, die zu meinem Repertoire gehören, rechtfertigen den weiter oben verwendeten Begriff des «im Wind stehen»: Es sind heterogene Marktstrukturen, die viel Raum lassen für rasche und markante Präferenzverschiebungen, die vor allem dadurch ausgelöst werden können, dass politische Entwicklungen das Wohl und Wehe einzelner Branchen oder Regionen stark beeinflussen. Rasche und markante Präferenzverschiebungen kenne ich aus gelebter Erfahrung in den 1970er-Jahren, die auch einen politischen Elefanten auf dem Börsenparket kannten. Allerdings war dieser im Verhältnis zum jetzigen ein Elefäntchen.
Was muss man können?
Die Schlüsseldisziplin in solchen Phasen ist mehr denn je das Verständnis über die grundsätzliche Funktionsweise komplexer sozialer Systeme, wie die Börse eines ist.
Auf Grundlage dieser Kenntnisse können die meisten Strukturbrüche festgestellt werden, die Konsequenzen haben und zur Neuorientierung praktisch zwingen.
Das ist nicht leichter gesagt als getan, aber es ist leichter getan als beschrieben. Zumindest habe ich auch heute versucht, einen Einblick in meine Methode zu gewähren, wie ich zu meinen Analysen gelange.
Alfons Cortés