Der neue Verfassungstext für höhere AHV-Renten ist direkt anwendbar. Die Rentner müssen nicht warten, bis das Parlament eine Gesetzesänderung beschlossen hat. Zu diesem Befund sind die Bundesjuristen gekommen.
Politisch war der Fall klar: Spätestens 2026 müssen die AHV-Renten aufs Jahr gerechnet um 8,3 Prozent steigen. Das forderte die Volksinitiative für höhere AHV-Renten, die das Volk mit dem Urnengang vom 3. März in die Bundesverfassung gesetzt hat. Gemäss dem neuen Verfassungstext entsteht der Zuschlag spätestens mit Beginn des Jahres 2 nach Annahme der Volksinitiative – also Anfang 2026.
Juristisch war allerdings nicht klar, was geschehen würde, wenn das Parlament die Umsetzung auf Gesetzesstufe verzögert. Oder wenn eine Gesetzesrevision in einer Referendumsabstimmung scheitert – etwa weil das Volk nicht einverstanden ist mit höheren Steuern oder höheren Lohnabzügen. Bei jüngst befragten Staatsrechtlern herrschte in dieser Frage keine Einigkeit.
Es geht auch ohne Gesetz
Die Bundesjuristen haben nun ihre Interpretation vorgelegt. Das verfassungsrechtliche Gewissen des Bundes ist das Bundesamt für Justiz (BJ). Laut Einschätzung des BJ ist die neue Verfassungsbestimmung zum Anspruch auf die Erhöhung der AHV-Altersrente direkt anwendbar. Das heisst, es braucht dafür nicht zwingend eine Änderung des AHV-Gesetzes. Dies erklärte am Dienstag auf Anfrage das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
Laut Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Verfassungsbestimmung dann direkt anwendbar, wenn sie genügend bestimmt und klar formuliert ist. Ein Lehrbuchbeispiel lieferte die Minarettinitiative, die aus einem Satz bestand: «Der Bau von Minaretten ist verboten.» Der massgebende Satz des neuen Verfassungstexts zur AHV-Initiative sagt: «Bezügerinnen und Bezüger einer Altersrente haben Anspruch auf einen jährlichen Zuschlag in der Höhe eines Zwölftels ihrer jährlichen Rente.» Das werteten die Bundesjuristen als bestimmt und klar genug.
Das heisst nicht, dass es kein Umsetzungsgesetz geben wird. Aber es heisst, dass die erhöhten AHV-Renten auf alle Fälle ab Anfang 2026 fliessen werden. Der erwähnte Satz im neuen Verfassungstext und der Titel der Volksinitiative («Initiative für eine 13. AHV-Rente») deuten auf einen Zuschlag einmal pro Jahr im Umfang einer Monatsrente. Das entspräche auch dem Marketingkonzept der Initianten mit der Anlehnung an den 13. Monatslohn.
Administrativ einfacher wäre aber eine Erhöhung der Monatsrente um 8,3 Prozent. Man könnte auf eine zusätzliche Auszahlungsrunde verzichten, und es brauchte keine Sonderregelung für Auszahlungen bei Mutationen während des Jahres. Gemäss Interpretation der Bundesjuristen wäre die Erhöhung der Monatsrenten gemäss dem neuen Verfassungstext zulässig. Politisch dürfte diese Frage kaum für Kontroversen sorgen.
Der Bundesrat wird nun laut BSV prüfen, ob er die Erhöhung der AHV-Renten auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe umsetzen will und wie die Zahlungsmodalitäten sein werden. Für zwei Dinge wird es voraussichtlich Gesetzesänderungen brauchen. Zum einen muss gemäss dem neuen Verfassungstext das Gesetz sicherstellen, dass die Rentenerhöhung nicht zu einer Reduktion von Ergänzungsleistungen (EL) führt. Wird diese Bestimmung bis Anfang 2026 nicht umgesetzt, müssten EL-Bezüger unter Umständen mit einer Reduktion der Ergänzungsleistungen rechnen. Sicher ist dies allerdings laut Bundesangaben vom Dienstag noch nicht.
Das Unbequeme kommt noch
Und dann ist da zum anderen noch der Elefant im Raum: die Finanzierung der Zusatzrenten im Umfang von zunächst 4 bis 5 Milliarden Franken pro Jahr. Rund ein Fünftel der Zusatzkosten für die AHV geht direkt zulasten der Bundeskasse. Wie der Bund dies und weitere hohe Zusatzausgaben kompensiert, wird in den nächsten Jahren noch Gegenstand heftiger Kontroversen sein.
Nebst der Bundeskasse sind auch für die AHV-Kasse ohne Sanierungsmassnahmen rote Zahlen programmiert. Doch der Druck auf rasche Beschlüsse zur Finanzierung des AHV-Ausbaus ist kleiner, wenn die höheren Renten auch ohne Gesetzesänderung ab 2026 fliessen. Die Abtrennung der Rentenerhöhung von der Finanzierung erhöht den Anreiz des Parlaments, den unbequemen Teil noch hinauszuschieben. Höhere Steuern? Höhere Lohnabzüge? Ein höheres ordentliches Rentenalter? Die Diskussionen werden unangenehm sein. Je länger die Finanzierung hinausgeschoben wird, desto weniger zahlen die Älteren und desto grösser werden die künftigen Belastungen für die Jüngeren. Das Hinausschieben entspräche wohl dem Geist des Volksentscheids vom 3. März.
Gemäss den Rechnungen des Bundes dürfte die AHV 2027 in die roten Zahlen rutschen – mit von Jahr zu Jahr stark steigenden Defiziten. Ebenfalls 2027 dürfte der Kapitalbestand der AHV (Reserven) unter 100 Prozent der jährlichen Ausgaben rutschen. Gemäss Gesetz darf das AHV-Kapital «in der Regel» nicht unter 100 Prozent der Jahresausgaben sinken. Die Formulierung «in der Regel» gibt gewissen Spielraum für Verzögerungstaktik. 2033 würde das AHV-Kapital ohne Sanierung unter 50 Prozent der Jahresausgaben rutschen, doch auch damit könnte die AHV technisch noch funktionieren. Je tiefer die Reserven sind, desto liquider müssten die Kapitalanlagen sein und desto geringer werden damit die Renditeerwartungen sein. Aber dies wird die Politiker von 2024 wenig kümmern.