Das öffentliche Gespräch zwischen Barack Obama und Angela Merkel in Washington fördert überraschende Ähnlichkeiten zwischen den zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten zutage. Bemerkenswert ist aber auch, was umschifft wird.
Es ist faszinierend, dem Gespräch zwischen Angela Merkel und Barack Obama zuzuhören. Denn während sie auf den ersten Blick so unterschiedlich wirken, wird im Laufe der Unterhaltung klar, wie viel sie verbindet. Da sind zum einen die charakterlichen Ähnlichkeiten. Sie benennen sie selbst, gleich zu Beginn der Veranstaltung in «The Anthem» in Washington am Montagabend. «Sie ist eine Wissenschafterin», sagt er. «Pragmatisch und analytisch. Deshalb beharrte sie auch darauf, heute Abend Deutsch zu sprechen, mit Simultanübersetzung, obwohl ihr Englisch exzellent ist. Sie legt Wert auf Präzision.» Worauf Merkel entgegnet: «Das gilt für ihn als Anwalt nicht weniger. Immer ist er um Logik und Klarheit bemüht.» Gut möglich, dass die Liebe zur Rationalität die beiden verbindet.
Die erfolgreichen Aussenseiter
So strahlen sie, obwohl sie sich mit «dear friend» ansprechen, eine Art distanzierte Herzlichkeit aus. Abgesehen von dieser Seelenverwandtschaft gibt es aber auch überraschende Parallelen im Werdegang der beiden. Ausgehend von ihren kürzlich erschienenen Memoiren «Freiheit» resümiert Merkel ihr Leben unter der Formel «35:35»: Die jetzt 70-Jährige, Bundeskanzlerin von 2005 bis 2021, verbrachte die erste Hälfte ihres Lebens in der DDR, die zweite – nach dem Mauerfall – in Westdeutschland und dann zunehmend rund um den Globus.
Sosehr sie die Befreiung und die plötzliche Weitung des Horizonts nach 1989 begeisterte, so sehr hatte sie doch lange das Gefühl, als Ostdeutsche und Frau eine Aussenseiterin im Politbetrieb zu bleiben. «Dass man unter der kommunistischen Diktatur litt und trotzdem ein gutes, interessantes Leben haben konnte, verstanden viele Westdeutsche nicht», sagt sie. Obama deutet es nur an, aber man versteht, dass er sich als erster schwarzer Präsident, im Amt von 2009 bis 2017, mit einem kenyanischen Vater und einer Kindheit in Hawaii und Indonesien, den die Unterstellung verfolgte, kein richtiger Amerikaner zu sein, ein wenig in Merkel wiedererkennt.
Die Parallelen scheinen noch einmal durch, als die beiden über Risse im Nationalen sprechen – Merkel über die fortbestehende Spannung zwischen Ost- und Westdeutschland, Obama über die Spaltungen zwischen Schwarzen und Weissen, Stadt und Land, Demokraten und Republikanern. Merkel nimmt den Ball auf und spricht über Windturbinen, die der Landbevölkerung mit ihrem Geräusch und dem Schattenwurf zur Last fallen, während ihnen die «naturverbundenen, grünen Städter» vorwerfen, gegen Alternativenergien zu sein.
Worauf Obama vom ländlichen Amerika spricht, mit seinen Werten, die das Fundament der USA bildeten, über die die globalen Nomaden in den Metropolen inzwischen jedoch nur noch müde lächeln. Beide konstatieren ein zunehmendes Auseinanderdriften der Bubbles und das verbreitete Gefühl breiter Bevölkerungsschichten, nicht ernst genommen zu werden. Beide plädieren für mehr Neugierde und Offenheit gegenüber anderen Lebensstilen und Einstellungen, wobei Obama festhält: «Gerade bei einem Politiker spürt die Bevölkerung genau, ob er wirklich zuhört und den anderen wahrnimmt oder nur so tut.»
Politik als Gratwanderung
Obwohl Obama betont, er sei nicht Oprah Winfrey, die berühmte Moderatorin und Interviewerin, versteht er es gut, Merkel aus der Reserve zu locken; nicht mit Provokationen, sondern mit echtem Interesse. Vor allem die deutsche Wiedervereinigung, das Zusammenführen von unterschiedlichen Welten, scheint ihn zu faszinieren. Immer wieder schlägt er den Bogen von Merkels Lebensweg zum «grossen Experiment der nationalen Integration», wie er es nennt. Aber so richtig gehen lässt sich Merkel natürlich nicht. Nach jeder Frage lässt sie sich reichlich Zeit zum Nachdenken. «Du bist eher introvertiert», sagt Obama einmal lächelnd, worauf sie antwortet: «Es ist wichtig, sein Gegenüber vor dem Gespräch zu analysieren.»
Einig sind sich die beiden beim Klimaproblem. Hier schlägt Merkel durchaus selbstkritische Töne an, wenn sie sagt, es sei während ihrer Amtszeit zwar vorwärtsgegangen, aber zu langsam. «Es ist mir nicht gelungen, die notwendigen Mehrheiten zusammenzukriegen. Es ist richtig, wenn die Jungen, die dereinst die Folgen tragen, jetzt Druck machen.» Als sie erwähnt, dass der Klimawandel auch die Emigration – zum Beispiel aus Afrika – anheize, spricht Obama die Flüchtlingskrise von 2015 an. Merkel betont zwar, man habe die vor dem Krieg flüchtenden Syrer nicht einfach abweisen können, räumt aber zugleich ein, dass man nicht unbegrenzt Fremde hereinlassen dürfe und abgesehen von den Opfern auch die kriminellen Netzwerke von Menschenhändlern im Auge haben müsse.
Worauf Obama den Zusammenhang zwischen Migration und dem Aufstieg von rechten Politikern anspricht. Es handle sich um eine Gratwanderung, sagt Merkel – zwischen Humanität, dem wirtschaftlichen Bedarf an jungen Arbeitskräften, der Integration der Zuwanderer sowie den ökonomischen und sozialen Sicherheitsbedürfnissen der Einheimischen.
Der Elefant im Raum
Auch über die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 sprechen sie ausführlich, insbesondere über das Dilemma, dass sie die Banken zur Rechenschaft ziehen wollten, sie zugleich jedoch stützen mussten, um Schlimmeres zu verhindern. «Als Präsident steht man oft vor solchen Widersprüchen», sagt Obama. «Man hat Ideale und Werte, aber in der Praxis gibt es kaum perfekte Lösungen, höchstens pragmatische Kompromisse.»
Unverständlich bleibt allerdings, warum Obama in der fast zweistündigen Tour d’Horizon kein einziges Mal den brisanten Themenkomplex rund um Russland, Putin und die Ukraine anschneidet. Immerhin handelt es sich dabei um eine der grössten Hypotheken aus Merkels langer Amtszeit. Vermutlich hätte sie auch so etwas wie die «pragmatischen Kompromisse» ins Spiel gebracht. Aber Obama hätte es wenigstens versuchen müssen, «dear friend» hin oder her.