Die 37-jährige Triathlon-Legende aus Solothurn hat noch ein letztes grosses Ziel: die Ironman-WM im Herbst. Doch derzeit muss sie pausieren. Und sie behauptet, sie könne auch sehr faul sein.
Daniela Ryf, Sie haben jahrelang ein Rennen nach dem andern für sich entschieden. Nun läuft es schon seit Monaten nicht mehr rund, Sie gewinnen nicht mehr, sind verletzt. Wie fühlt es sich an, keine Siegerin mehr zu sein?
Ich merke, dass es an der Zeit ist, langsam aufzuhören. Gleichzeitig habe ich immer noch Lust, Gas zu geben. Wobei ich die letzten vier Wochen wegen einer Verletzung kaum mehr trainieren konnte, das macht es schwierig.
Sie weichen mit Ihrer Antwort aus.
Als Mensch ist mir das Gewinnen nicht mehr so wichtig, andere Sachen sind in den Vordergrund gerückt. Und als Athletin kann ich die Erwartungen an mich nicht mehr erfüllen, ich habe schon vor längerem gemerkt, dass ich nicht mehr dorthin komme, wo ich mal war. Diese Erkenntnis ist im Training schwieriger auszuhalten als im Wettkampf selber, wenn ich einfach alles gebe.
Wie ist das denn, wenn man merkt: Es läuft nicht mehr so wie einst?
Es fällt schwer, die Freude am Training zu behalten. Ich trainiere zwar immer noch gern, aber es ist auch frustrierend, wenn ich nicht mehr so schnell den Grenchenberg hinauffahren kann wie damals. Denn solange ich aktiv bin, habe ich immer noch den Anspruch, Weltklasse zu sein. Heute bin ich meilenweit davon entfernt. Selbst im Februar, vor meiner Verletzung, als es im Training gut lief, merkte ich, dass im Vergleich zu früher fünf Prozent fehlen.
Zeit Ihrer Karriere haben Sie immer wieder betont, dass Sie noch fitter werden wollen. Wann haben Sie festgestellt, dass das nicht mehr geht?
Erstmals habe ich das 2019 in Nizza gemerkt, an der WM über die halbe Ironman-Distanz (Ironman 70.3, die Red.). Da wurde ich zwar nochmals Weltmeisterin, allerdings mit etwas Glück. Danach kam Corona, und in dieser Zeit stellte ich fest, dass es mir auch ohne Rennen gut geht. Das war eine wertvolle Erkenntnis. Dann hat mir die Entwicklung beim Material geholfen, die abnehmende Stärke auf dem Rad zu kompensieren – es hat ja im letzten Jahr gar noch zum Weltrekord über die Ironman-Distanz gereicht (8:08:21 an der Challenge Roth, die Red.). Aber meine athletische Bestform hatte ich 2018, bei meinem letzten WM-Titel auf Hawaii.
Das ist lange her.
Ja, ich konnte meine schlechtere Form lange gut kaschieren. Es hat mir seither gar noch für zwei WM-Titel und die Ironman-Weltbestzeit gereicht. Ich bin dankbar dafür.
Wann war der Zeitpunkt da, an dem Sie wussten: Jetzt höre ich auf?
Das erste Mal, dass ich an einen Rücktritt dachte, war im Sommer letzten Jahres, nach meiner Weltbestzeit in Roth. Ich war nicht dorthin gereist, um diese Bestmarke zu erzielen, denn ich hatte das zuvor schon zweimal vergeblich versucht, und darum war dieses Ziel gar nicht mehr in meinem Kopf. Als ich es fast aus heiterem Himmel doch noch schaffte, dachte ich: Jetzt hast du im Sport alles erreicht, was du dir je erträumt hattest.
Dann kam das Rennen auf Hawaii, auch danach hätte es für mich gestimmt, aufzuhören. Doch ich wollte nicht sagen: Tschüss, ich bin dann mal weg. Ich wollte den Abschied mit den Fans teilen, ihn ein Jahr lang zelebrieren, nochmals mit einer richtig guten Saison.
Das ist offenbar nicht so einfach.
Nein, denn für erfolgreiche Rennen muss ich mich in einen Tunnel begeben, und nun kommen viele Leute auf mich zu, die mir ihre Zuneigung bekunden. Das ist zwar schön, hilft aber nicht bei der Konzentration auf eine starke Leistung. Ich bin nicht mehr bereit, so tief in diesen Tunnel einzutauchen.
Sie wollen also nicht mehr so sehr leiden.
Doch, ich kann mich noch sehr fordern. Aber der Rest fällt mir viel schwerer: alles auf die Seite zu schieben, auf vieles zu verzichten, in den letzten Vorbereitungen sozial isoliert zu sein. 2018 war ich vier Monate lang im Höhentraining in St. Moritz, in dieser Zeit war ich ein einziges Mal auswärts essen. Das war ein sehr einsames Leben, auch wenn es sich letztlich gelohnt hat. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es das noch wert ist. Ich bin mental nicht mehr bereit, so viel von mir zu geben. Jetzt gibt es auch andere Dinge in meinem Leben, die mir wichtig sind. Wobei ich mich für die Ironman-WM im September in Nizza nochmals voll und ganz reinhängen will.
Sie kamen jahrelang als eine Art perfekt funktionierende Maschine rüber. Wie wird sich diese bedingungslose Konzentration in Ihrem neuen Leben zeigen?
Ich war nie eine Maschine, ich habe es einfach geschafft, die Athletin in den Vordergrund zu stellen. So hatte ich 2017 lange Rückenprobleme und im Jahr darauf ein gebrochenes Steissbein, beide Verletzungen konnte ich sehr gut vor der Öffentlichkeit verstecken. So schaffte ich es 2017 drei Tage vor dem Ironman Südafrika kaum, aus dem Bett zu steigen – und ich errang den Sieg schliesslich doch. Mental könnte ich das immer noch, aber der Körper macht das nicht mehr mit. Ich bin also definitiv keine Maschine.
Zurück zur Frage nach dem Transfer dieser Eigenschaft in Ihr neues Leben.
Ich kann sehr entspannt sein, ich werde den Ehrgeiz problemlos ablegen können.
Es fällt schwer, das zu glauben: eine Daniela Ryf ohne Ehrgeiz und Wettkampf.
Ich werde sicher einen Beruf brauchen, in dem ich mich entfalten und dabei Gas geben kann. Es darf aber etwas weniger sein. Ich freue mich darauf, es bald gemütlicher zu haben. Gleichzeitig werde ich weiterhin trainieren, sicher täglich eine halbe bis eine ganze Stunde, sozusagen als Ausgleich, zum Runterfahren.
Was kommt beruflich auf Sie zu?
Ich werde mit meinen Partnern selbständig gewisse Projekte vorwärtstreiben, zum Beispiel eine Bike-Safari oder «Ride and Wine» – eine Mischung aus Sport und Spass. Ich möchte die Leute auf spielerische Art motivieren, sich zu bewegen, aktiv zu sein.
Gibt es diese spassbetonte Daniela Ryf tatsächlich?
Ich habe kürzlich ein Tagebuch gefunden, das ich als Elfjährige geführt habe. Darin stand, dass ich an einem Nachmittag ein Schwimmtraining geschwänzt habe, um mit Kolleginnen etwas zu unternehmen. Ich schrieb da: «Es war auch toll.» Und ich hielt jedes Mal freudig fest, wenn ich von den Schwimmtrainern eine Schokolade erhielt. In den letzten Jahren musste ich meine geniesserische Seite unterdrücken, das war nötig, um meinen Sport auszuleben. Aber ich bin nicht von Natur aus diszipliniert, ich kann sehr faul sein.
Vor drei Jahren teilten Sie der Öffentlichkeit mit, dass Sie auch Frauen lieben, also bisexuell sind. War dieses Outing aus heutiger Sicht richtig?
Ich war damals in keiner Beziehung und wollte das einfach mitteilen, um mich niemandem erklären zu müssen, wenn ich dann mal in einer Partnerschaft mit einer Frau bin. Ich wollte mich nicht verstecken und bin heute sehr froh über mein Outing.
Heute sind Sie in einer Beziehung mit einer Frau. Gab es seltsame Reaktionen?
Nein, wir hatten nur positive Feedbacks, die ein heterosexuelles Paar so nicht erhalten würde. Einmal kam eine Flugbegleiterin auf uns zu und sagte: «Ihr seid so herzig, wie ihr miteinander umgeht.» Die ganze Crew habe das gesehen und sei ganz aus dem Häuschen. Es ist schön, dass wir uns überhaupt nicht einschränken müssen.
Sehen Sie sich als Botschafterin für mehr Toleranz bezüglich sexueller Orientierung?
Ich möchte nicht mit einer Flagge vorausgehen und sagen: So musst du leben. Meine Botschaft ist eher: Steh zu dir selber, lebe aus, was du fühlst. Wenn ich mit meiner Geschichte Leuten helfen kann, offen zu sein, dann gefällt mir das. Offenbar ist es ja immer noch nicht normal, was ich lebe – sonst würde es nicht Aufmerksamkeit beanspruchen. Und die Leute interessiert es, sie kommen mit Fragen auf mich zu.
Wurden Sie schon von Organisationen angefragt, ob Sie sich als Bannerträgerin für eine freie sexuelle Orientierung zur Verfügung stellen?
Nein, und das hat mich etwas erstaunt. Ich würde sehr gern mal an der Pride in Zürich teilnehmen, aber dieses Festival ist immer im Sommer, wenn bei mir das Training im Fokus steht. Aber nächstes Jahr will ich dabei sein, denn es ist schön, eine Gemeinschaft zu finden, mit der man sich identifizieren kann. In meinem Umfeld habe ich kaum gleichgeschlechtlich orientierte Menschen, mit denen ich mich austauschen kann. Dabei wäre das wichtig. In dieser Community gibt es sehr viele coole Leute, denn sie alle mussten einen Prozess durchmachen und stark sein.
Dieses Starksein, lernt man das im Ausdauersport?
Nein, es ist schon sehr anders, im Spitzensport geht es ums Durchbeissen. Was mich mein Sport allerdings gelehrt hat: zu sich selber zu stehen. Denn als ich 15-jährig war, schämte ich mich für das, was ich machte: Während all die Coolen über Mittag auf dem Pausenplatz rumhingen, war ich der Loser, der trainieren ging. Wie es sich nun zeigt, war das, was ich gemacht habe, nicht so falsch. Ich habe jedenfalls gelernt, dass es cool ist, den eigenen Weg zu gehen.
Seit diesem Jahr gibt es im internationalen Triathlon-Sport neue Rennserien, in denen man als Profi deutlich mehr Geld verdienen kann als bisher. Es ist ein Ziel der Organisatoren, den Sport damit sichtbarer zu machen. Das ist bisher nicht gelungen.
Gerade in der Schweiz stelle ich fest, dass in der Öffentlichkeit nach wie vor nur der Ironman Hawaii etwas zählt. Als ich vor zwei Jahren Ironman-Weltmeisterin in St. George wurde, hat das nicht einmal für eine Nomination zur Sportlerin des Jahres gereicht – obwohl der WM-Titel genau gleich viel zählt wie jener auf Hawaii. Ich nehme dieses Jahr an der neuen T100-Serie teil (internationale Rennen für die Triathlon-Elite, über 2 km Schwimmen, 80 km Radfahren, 18 km Laufen, die Red.): Diese Rennen sind top organisiert und werden am Fernsehen präsentiert, aber da muss noch viel gehen, damit sie ins Bewusstsein einer breiteren Masse rücken.
Jahrelang hatten Sie mit Brett Sutton als Trainer Erfolg, dann trennten Sie sich von ihm, kehrten aber vor der letzten Saison wieder zurück zu ihm. Beschliessen Sie Ihre Karriere mit ihm?
Wir arbeiten nicht mehr so intensiv zusammen, weil Brett den ganzen Winter hindurch in China war und dort Nachwuchsathleten trainiert. Aber wir sind regelmässig in Kontakt, und er hilft mir auch gerade jetzt, während meiner Verletzungspause. Er ist ein wichtiger Mensch für mich, hatte lange eine Art Vaterrolle inne; uns verbindet immer noch viel – und wir werden sicher auch nach Karrierenende miteinander zu tun haben.
Werden Sie etwa seine Assistentin?
Nein, das stelle ich mir mit ihm als zu anstrengend vor (lacht). Ich werde aber auf persönlicher Ebene weiter mit ihm zu tun haben, schliesslich war er gegen Schluss meiner Karriere eher mein Mentaltrainer, vor allem in schwierigeren Phasen. Oft gab es Rennen, in denen ich kurz vor dem Start das Gefühl hatte, ich könne gar nichts mehr, dann hat er mich aufgerichtet. Und manchmal war es gerade umgekehrt – zum Beispiel vor meinem Weltrekord-Rennen in Roth, als er meinte, ich solle nicht starten, denn ich sei gar nicht bereit. Wir haben uns jedenfalls gut ergänzt.
Zehnfache Weltmeisterin
wag. · Daniela Ryf hat je fünf Weltmeistertitel über die volle Ironman-Distanz und die halbe Distanz (Ironman 70.3) gewonnen. Im letzten Jahr verbesserte sie in Roth die Ironman-Weltbestzeit über 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42 km Laufen. Sie war zweimal Schweizer Sportlerin des Jahres. Nun absolviert sie ihre letzte Saison. Wegen einer Steissbeinverletzung muss sie derzeit pausieren, aber die Ironman-WM in Nizza im September soll ihr letztes grosses Rendez-vous werden. Ryf ist 37-jährig und hat einen Bachelor in Ernährungswissenschaften.