Gleichermassen vom Krieg gezeichnet und doch nicht gleich: Für ihre Interviewsammlung «Nimm meinen Schmerz» hat die russische Journalistin sowohl Ukrainer als auch Russen zum Krieg befragt.
Der Krieg fügt Menschen nicht nur unendliche Grausamkeiten zu. Er verlangt ihnen auch unendliche Grausamkeiten ab, wie gegenwärtig in der Ukraine: Flüchtende müssen nicht nur Haus und Hof, sondern unter Umständen auch bettlägerige Angehörige zurücklassen, um ihr nacktes Leben zu retten. Tote bleiben auf offener Strasse liegen, weil niemand mehr die Kraft hat, sie zum Friedhof zu bringen.
Jede Entscheidung wird zum Dilemma: Bleibt man im Kriegsgebiet, dann riskiert man sein Leben – und das seiner Kinder. Geht man ins Ausland, dann begleitet von Schuldgefühlen. Und vor der Erinnerung gibt es ohnehin kein Entrinnen.
Die Erinnerungen, die Katerina Gordejewa in ihrer Interviewsammlung «Nimm meinen Schmerz» versammelt, sind allesamt schrecklich. Für ihr Buch sprach die russische Journalistin, die ihrer Heimat schon nach der Annexion der Krim 2014 den Rücken gekehrt hat, nicht nur mit Flüchtlingen in der EU und in der Ukraine.
Riskantes Unterfangen
Die heute 47-Jährige reiste auch immer wieder nach Russland, um dort ukrainische und russische Interviewpartner, meist Frauen, zu treffen. Ein riskantes Unterfangen, denn als einst auch für ihre kritischen Beiträge geschätzte Protagonistin des russischen Staatsfernsehens gilt Gordejewa in Putins Russland heute als «feindliche Agentin». Das Ergebnis ihrer Recherchen sind 345 wuchtige Seiten, die ganz nah an den Menschen und ihren quälenden Erlebnissen bleiben.
Da sind zum Beispiel Serhij und Marina, die Gordejewa an der estnischen Grenze trifft. Das Paar hatte sich im südukrainischen Mariupol eine Existenz mit Meerblick aufgebaut, die im Frühjahr 2022 durch russische Bomben zerstört wurde. Heute sind die beiden froh, dass sie damals nicht ins nahe gelegene Asowstal geflüchtet sind. In den Bunkern des Stahlwerks waren bis zur endgültigen Kapitulation der ukrainischen Regimenter am 20. Mai 2022 auch Tausende Zivilisten eingekesselt.
Yulia dagegen hatte weniger Glück. Gordejewa trifft die Ukrainerin, die ebenfalls aus Mariupol stammt, im russischen Taganrog am Asowschen Meer. Yulia erinnert sich an die Vorgärten in Mariupol: «Die Leichen lagen überall. (. . .) Im Hof meiner Schwester lag einer auf der Bank, in eine Jacke gewickelt, ohne Kopf. Es war ein Bekannter von uns, er wurde später an der Schule beerdigt.»
In Yulias Hinterkopf steckt noch ein Bombensplitter, den man mit blossem Auge sehen kann. Ihr traumatisierter kleiner Sohn, mit dem sie zwei Monate in einem Keller ausharrte, kann bis heute nicht sprechen. Von Russen «befreit», lebt Yulia heute in einem russischen Flüchtlingslager. Putins Staat bietet ihr an, ins 7000 Kilometer entfernte Chabarowsk im russischen Fernen Osten umzusiedeln. Doch Yulia möchte in der Nähe der Heimat bleiben und auf keinen Fall nach Europa gehen. Das sagt sie jedenfalls, während ihre «Befreier» danebenstehen.
Das grosse Los . . .
Da Katerina Gordejewa in Russland auch dank ihrem Youtube-Kanal «Sag’s Gordejewa» sehr bekannt ist, erreichen sie regelmässig Kontaktanfragen von Russen, die den Glauben an das System Putin verloren haben. In einer sibirischen Kleinstadt trifft sie Natascha. Natascha glaubte, dass ihr Mann Ljoscha das grosse Los gezogen hatte, als er in die russische Armee eintrat.
Doch als Ljoscha in den ersten Kriegstagen in Gefangenschaft gerät, wird der üppige Sold schon nicht mehr ausgezahlt. Sieben Monate später kehrt er abgemagert und verstört zurück, verbirgt seine rechte Hand. Als er sich am Tag nach seiner Rückkehr erhängt, entdeckt sie, dass ihm die Finger abgehackt wurden. Wer Ljoscha gefoltert hat, ob Ukrainer oder Russen, bleibt im Dunkeln.
Katerina Gordejewa lässt in ihrem Buch Widersprüche offen, die sie nicht auflösen kann, und verbietet sich jede Spekulation. Doch sie stellt sich mutig der Wut, der Verzweiflung und der Apathie der Menschen, die für ihr ganzes Leben von diesem Krieg gezeichnet sein werden, selbst wenn ihre Wunden unsichtbar sind.
Katerina Gordeeva: Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg. Aus dem Russischen von Jennie Seitz. Verlag Droemer Knaur. Berlin 2023. 352 S., Fr. 36.90.