Die Schweiz hat 80 000 Euro bezahlt, die Klimaseniorinnen tragen Steine auf den Bundesplatz, ihre Anwältin wird weltweit gefeiert, und der Bundesrat wehrt sich in Strassburg gegen eine Allianz von NGO – Rückblick auf ein Jahr Klima-Urteil.
Vor gut einem Jahr wurde die Schweiz international als Klimasünderin vorgeführt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand im April 2024, dass die Schweiz zu wenig gegen die Klimaerwärmung unternehme und ältere Frauen nicht genügend vor der Hitze schütze. Der Entscheid sorgte weltweit für Aufsehen. Von den einen wurde er als bahnbrechend und zukunftsweisend gefeiert, für die anderen war er Beweis dafür, dass man die Strassburger Richter definitiv nicht mehr ernst nehmen könne.
Seither ist einiges passiert. Der Klima-Fall ist zwar etwas aus den Schlagzeilen verschwunden, doch er beschäftigt weiter: Politiker, Juristen, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und natürlich die Protagonisten, allen voran die Klimaseniorinnen, die gegen die Schweiz geklagt haben. Die munteren Frauen, die vor dem Gerichtshof mit ihrer speziellen «Vulnerabilität» argumentiert haben, reisen seither als Klage-Pionierinnen in Europa herum und sind entschlossen, das Thema am Leben zu erhalten.
So haben sie jüngst, am ersten Jahrestag ihres Triumphs, einen 2,5 Tonnen schweren Stein aus Strassburg nach Bern herbeikarren lassen, den sie auf dem Bundesplatz enthüllten – er soll ein Klima-Mahnmal sein. Der Stein wurde «umweltfreundlich mit einem Elektro-Traktor» in die Schweiz transportiert und mit der Partisanenhymne «Bella ciao» eingeweiht. Wo der Steinblock aufgestellt werden soll, steht noch nicht fest.
Viel Publicity für Greenpeace
Für Greenpeace Schweiz war es ebenfalls ein gutes Jahr. Die Umweltorganisation hatte sich die Klima-Klage ausgedacht. Weil sie ältere Frauen als besonders erfolgversprechende Opfergruppe ansah, suchte sie gezielt nach willigen und geeigneten Seniorinnen, die sie als Klägerinnen vor Gericht schicken konnte. Die Klage wurde von Greenpeace vorbereitet und finanziert.
Der ganze Aufwand hat sich gelohnt, der juristische Sieg hat der Organisation viel Publicity eingebracht. Doch nicht nur marketingmässig war das Klima-Urteil für Greenpeace ein Erfolg, auch finanziell schaute etwas heraus: Die Schweiz wurde vom Strassburger Gerichtshof dazu verurteilt, den siegreichen Klägerinnen eine Summe von 80 000 Euro zu bezahlen. Das Geld wurde in der Zwischenzeit überwiesen.
Das Urteil des EGMR hat auch neue Prominente hervorgebracht. Allen voran die Zürcher Juristin Cordelia Bähr, die leitende Rechtsanwältin oder «Architektin» der Klima-Klage. Sie wurde von der Wissenschaftszeitschrift «Nature» ausgezeichnet – als eine von zehn Personen, die 2024 die Wissenschaft weltweit massgeblich geprägt haben: «Die Klima-Anwältin, die die Schweiz wegen der globalen Erwärmung verklagte – und gewann», so der Titel. Auch das «Time»-Magazin wurde auf Bähr aufmerksam und kürte sie im April 2025 zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt, und zwar in der Kategorie der «Pioniere». Sie habe die Gerechtigkeit neu definiert.
Dem Anwalt der Schweiz, Alain Chablais, ist ebenfalls ein Karrieresprung gelungen. Der Jurist, der als «Agent du gouvernement» das Land vor den Richtern in Strassburg vertreten hatte, ist heute nicht mehr beim Bundesamt für Justiz (BJ) tätig, sondern wirkt seit September 2024 als Richter am EGMR, und zwar für Liechtenstein. Er wurde kurz nach dem Klima-Urteil von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Als der fliegende Wechsel von der Position des Schweizer Vertreters zum Strassburger Richter bekanntwurde, gab es hierzulande Misstöne. Dass Chablais die Schweiz im Klimaseniorinnen-Fall vor dem EGMR verteidigt hatte, obschon er geistig bereits auf dem Absprung an denselben EGMR war, wollte nicht allen gefallen. Im BJ wusste man über die Wechselgelüste des Mitarbeiters Bescheid, sah darin aber offenbar kein Problem.
Protest aus dem Parlament
Und die offizielle Schweiz? Sie verhält sich für einmal anders, als man es gewohnt ist. Eine rebellische Juristengruppe, angeführt vom Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch, sorgte dafür, dass das Parlament im Sommer 2024 eine Protesterklärung verabschiedete. Die Schweiz werde dem Klima-Entscheid keine weitere Folge leisten, hiess es darin. Man erfülle die Anforderungen des Urteils, zudem betreibe der Gerichtshof unangemessenen Aktivismus und überschreite seine Kompetenzen. Es sei nicht zulässig, plötzlich ein Menschenrecht auf Klimaschutz zu erfinden.
Auch der Bundesrat zeigte sich ausgesprochen reserviert. Im Oktober 2024 musste er gegenüber dem Ministerrat des Europarates Stellung nehmen; dieser kontrolliert, ob ein Land einem EGMR-Urteil Folge leistet. Im Bericht, der gemeinsam vom Umweltminister Albert Rösti und vom Justizminister Beat Jans erarbeitet wurde, listete er auf, was die Schweiz alles in Sachen Klimaschutz unternimmt. So hatte der EGMR etwa das 2024 revidierte CO₂-Gesetz in seinem Klima-Urteil ignoriert. Das Ministerkomitee zeigte sich an seiner Sitzung im März 2025 interessiert, aber noch nicht vollends befriedigt. Der Bundesrat muss bis im September weitere Informationen liefern.
Die Landesregierung sieht sich dabei einer Allianz von über 30 NGO gegenüber, die sich ihrerseits beim Ministerrat gemeldet haben und gar nicht zufrieden damit sind, wie die Schweiz auf den Gerichtsentscheid reagiert. Greenpeace und Co. verlangen, dass die Schweiz ihre Klimaziele verschärfe und ein nationales CO2-Budget festlege.
Zum Chor der Kritiker gehört auch die nationale Menschenrechtsinstitution der Schweiz. Die Stelle, welche die Schweiz auf Vorgabe der Uno vor zwei Jahren geschaffen hat, beklagt sich ebenfalls beim Ministerkomitee und äussert den Wunsch, dass dieses den Druck auf den Bundesrat erhöhe. Direktor der nationalen Menschenrechtsinstitution ist Stefan Schlegel. Schlegel ist Mitgründer der Operation Libero und war Mitglied der Juristengruppe von Amnesty International. Die Gelder für das Institut kommen vom Bund – genauer: vom Aussendepartement – und von den Kantonen. Somit finanzieren die Schweizer Steuerzahler eine Institution, die sich zusammen mit einer NGO-Allianz in Strassburg über die Schweiz beschwert.
Auch im Parlament gibt das Klima-Urteil nach wie vor zu reden. Diese Woche wird der Nationalrat über eine überwiesene Motion des Ausserrhoder FDP-Ständerats Andrea Caroni diskutieren. Caroni fordert, die Schweiz solle zusammen mit anderen Ländern versuchen, den EGMR auf seine Kernaufgaben zurückzubinden. Der Bundesrat begrüsst die Motion.
Es ist allerdings fraglich, ob es der Schweiz im Verbund mit anderen Staaten gelingen wird, den EGMR zu zähmen. Zum einen wurde erst vor ein paar Jahren ein Appell zur richterlichen Zurückhaltung in die Menschenrechtskonvention aufgenommen – offenkundig ohne Wirkung. Zum anderen, und das zeigt der Fall der Klimaseniorinnen beispielhaft, gibt es zahlreiche NGO, staatliche Stellen und bestens vernetzte Lobbys, die vom Klima- und von anderem Aktivismus der Strassburger Richter profitieren und alles Interesse daran haben, dass das so bleibt.