Der neue ukrainische Oberbefehlshaber Sirski krempelt die Militärführung um. Eine eigens geschaffene Drohnen-Truppe soll langfristig den Sieg gegen Russland bringen. Doch zunächst steht General Sirski vor einem Berg akuter Probleme.
Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Donnerstagabend einen neuen Oberbefehlshaber ernannte, deutete er bereits an, dass dies nur der Anfang sei. In der Militärführung hat seither ein eigentliches Köpferollen stattgefunden. Der neue Oberbefehlshaber, Generaloberst Olexander Sirski, bringt sein eigenes Team mit; enge Vertraute seines Vorgängers Waleri Saluschni müssen gehen. Unter ihnen ist der bisherige Generalstabschef Serhi Schaptala, der durch Generalmajor Anatoli Barhilewitsch ersetzt wird. Insgesamt sind bis zum Wochenende neun Offiziere auf hohe Posten in der Militärführung aufgerückt.
Dabei zeigen sich neue strategische Akzente. So hat General Sirski zwei Stellvertreter in sein Team geholt, die für unbemannte Waffensysteme (Drohnen) beziehungsweise für Innovation zuständig sein werden. Damit trägt Kiew dem rasanten technologischen Wandel in der Kriegführung Rechnung. Dieses Thema trieb zwar schon den abgesetzten General Saluschni um, aber nun soll sich diese Prioritätensetzung auch in der Organisationsstruktur abbilden.
Tatsächlich besteht hier ein Schwachpunkt. Die Ukrainer haben sich in ihrem Abwehrkampf gegen Russland zwar sehr innovativ gezeigt. Aber die kleinen Billigdrohnen, die zu Zehntausenden an der Front zum Einsatz kommen, werden grossmehrheitlich durch Freiwillige beschafft und an die Kampftruppen geliefert. Die Führung in Kiew versäumte es, den nötigen organisatorischen Rahmen dafür zu schaffen. Das soll sich nun ändern. Präsident Selenski hat vergangene Woche angeordnet, eine «Drohnen-Truppe» aufzubauen – als separate Teilstreitkraft neben den Bodentruppen oder der Luftwaffe.
Die Munition geht aus
Mit Sprengstoff bestückte Drohnen sind für die ukrainischen Streitkräfte unter anderem deshalb so wichtig, weil sie preisgünstig sind und gegnerische Soldaten oder Militärmaterial präzise treffen können. Insofern helfen sie, den eklatanten Mangel an Artilleriemunition ein Stück weit auszugleichen. Doch ein Ersatz sind sie nicht, wie sich an den Fronten im Donbass schmerzhaft zeigt. Die russische Artillerie befindet sich grösstenteils ausserhalb der Reichweite ukrainischer Billigdrohnen und macht beispielsweise in Awdijiwka ganze Wohnviertel dem Boden gleich. Um die russischen Geschütze zu zerstören, braucht die Ukraine dringend Nachschub an westlichen Granaten für ihre eigene Artillerie. Derzeit leidet sie, was die Zahl der täglich verschossenen Granaten betrifft, an einer Unterlegenheit im Verhältnis von 1:5.
Das Problem dürfte sich bald noch verschärfen, weil der amerikanische Kongress seit Monaten weitere Militärhilfe blockiert und die europäischen Produktionskapazitäten zu gering sind. Gegenüber der «Financial Times» sprach ein Pentagon-Vertreter von einem «sehr düsteren Szenario» und wies auf die Gefahr hin, dass den Ukrainern auch die Munition für ihre Flugabwehr ausgehen könnte. Dies könnte, wie die «New York Times» unter Berufung auf Regierungskreise meldete, bereits im Laufe des nächsten Monats geschehen.
General Sirski sieht sich daher einem Berg von akuten Problemen gegenüber: Zum Munitionsmangel und zur zunehmend aussichtslosen Lage in der Frontstadt Awdijiwka kommt offenbar eine wachsende Verunsicherung der kämpfenden Truppe hinzu. Um die Kampfmoral zu heben, ist Sirski allerdings kaum die ideale Person, da er in den Streitkräften auf Vorbehalte stösst. An die Popularität und das hohe Ansehen seines jovialen Vorgängers Saluschni kommt er bei weitem nicht heran.
Nicht nur hat er jemanden verdrängt, der in der ukrainischen Gesellschaft geradezu Heldenstatus geniesst. Böse Zungen unterstellen ihm auch, er sei ein Karrierist und nehme bei seinen militärischen Entscheidungen zu wenig Rücksicht auf das Leben seiner Soldaten. Als Beispiel wird oft angeführt, dass Sirski im vergangenen Jahr zu viele Truppen dem Kampf um die strategisch wenig bedeutende Stadt Bachmut geopfert habe. Das ist eine zu simple Sichtweise, aber sie zeigt, wie viel Abneigung gegen diesen General bei der Personalie im Spiel ist. Seine Herkunft aus Russland, sein asketischer Lebensstil und sein eher verschlossenes Wesen dürften dabei ebenfalls eine Rolle spielen.
Das Dilemma von Awdijiwka
Ausgerechnet jetzt, nach seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber, steht Sirski vor einer ähnlich schwierigen Abwägung wie damals in Bachmut: Soll er die Stadt Awdijiwka aufgeben, um die dortigen, stark erschöpften Verteidiger zu retten? Oder lohnt es sich, Verstärkung in diese Hölle zu schicken, um den Russen einen verlustreichen Abnützungskampf aufzuzwingen? Da die feindlichen Truppen offenbar nur noch etwa 300 Meter von der Hauptversorgungsroute der Ukrainer entfernt sind, könnte sich die Frage schon bald erübrigen. Ein möglichst geordneter Rückzug wäre dann die einzige plausible Option.
Sirski ist sich der Kritik an seiner Person wohl genau bewusst. Jedenfalls nannte er gleich nach seiner Ernennung in einer Botschaft an die Streitkräfte das «Leben und die Gesundheit der Militärangehörigen» als eine seiner Prioritäten. Es gelte daher, eine Balance zu finden zwischen der Erfüllung von Kampfaufgaben einerseits und der Regeneration der Einheiten mittels intensiver Ausbildung anderseits. Der General spielt damit auf einen weiteren Schwachpunkt an: In der Vergangenheit kam es oft vor, dass neu mobilisierte Soldaten ohne rechte Ausbildung an die Front geschickt wurden, weil dort dringend Lücken gestopft werden mussten. Das Risiko, dort getötet oder schwer verletzt zu werden, ist unter solchen Voraussetzungen besonders hoch.