China beeinflusst das Portfolio westlicher Investoren in vielfacher Weise. Ein Blick auf den entscheidenden Frühindikator zeigt aber: Für die westliche Wirtschaft ist aus dem Reich der Mitte so bald keine Hilfe zu erwarten.
Liebe Leserin, lieber Leser, verschlingen Sie auch die Artikel über China von Anne Stevenson-Yang, Jörg Wuttke, Louis-Vincent Gave, Daniel Woker, Marco Papic und Christopher Wood? Mein persönlicher Favorit ist der Artikel von Michael Pettis, der die Alternativen Chinas aufzeigt, um der Wachstumssackgasse zu entgehen. Das Thema ist auch deshalb wichtig und spannend, weil China als Wachstumslokomotive die Portfolios westlicher Investoren in mannigfaltiger Weise beeinflusst hat, und sich daran auch nichts ändern wird, im Gegenteil.
Sie fragen sich vielleicht, wie ich darauf komme, einen Artikel über China zu schreiben, und Ihre Skepsis ist berechtigt: Um China wirklich zu verstehen, muss man in China leben; um aber den Einfluss chinesischer Wirtschaftsdaten auf die westlichen Finanzmärkte zu interpretieren, reichen eine Portion Fleiss, Motivation, ein erstklassiges Datenportal und langjährige Erfahrung, insbesondere auch mit Wirtschaftskrisen.
Die zentrale Frage lautet daher: Gibt es im Dickicht des chinesischen Zahlenkranzes eine Zahl, die stellvertretend für den Einfluss des Kolosses der nach Dollar gerechnet zweitgrössten, nach Kaufkraft aber bereits heute grössten Volkswirtschaft der Welt steht? Eine Zahl, die gleichzeitig als Frühindikator für China, aber auch als Taktgeber für unsere westlichen Volkswirtschaften, Finanzmärkte und Portfolioperformance hervorgehoben werden kann? Darüber hinaus sollte diese Zahlenreihe greifbar genug sein, um als Baustein in unseren Modellen die Erklärungskraft und die Korrelationen zu erhöhen und zu vertiefen.
Es gibt einige valable Kandidaten
Das Potenzialwachstum Chinas ist die wichtigste strategische Variable; abgesehen vom Vorgehen Chinas in der Taiwan-Frage. Das Potenzialwachstum wird einerseits von der Demografie bestimmt, und hier tut sich ein Abgrund auf. Das chinesische Arbeitsheer ist in den vergangenen zwei Jahren bereits um nicht weniger als 40 Millionen Menschen geschrumpft, eine Folge der kolossalen Fehlplanung der Ein-Kind-Politik und ungünstiger Migrationsströme. Hier kann kein Bürokrat die Zahlen frisieren: Die Welt wählt mit den Füssen. Ich habe gelesen, dass allein in Brüssel mehr Expats leben als in ganz China.
Sie werden nun einwenden, dass Brüssel um dieses Expatheer per se nicht zu beneiden ist, und Sie haben natürlich völlig recht. Aber Sie sehen, das ist nicht der Punkt, auf den ich hinaus will: Nur wenige westliche Menschen werden angesichts von kolportierten neun Millionen Überwachungskameras allein in Peking oder zwölf Millionen in Schanghai ihr Zelt dauerhaft im orwellianischen Reich der Mitte aufschlagen.
Der zweite Faktor für das Potenzialwachstum ist der Produktivitätsfortschritt, und hier sieht es besser aus. Hoffen wir für China – und für uns –, dass hier noch einiges Potenzial gehoben werden kann, damit diese zentrale Wachstumslokomotive nicht ausfällt. Aber beide Zahlen sind für unsere taktischen Modelle nicht brauchbar. Genauso wenig wie das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP), das nur schon aufgrund zweifelhafter Ermittlung nicht infrage kommt, oder die Einzelhandelsumsätze, das Konsumentenvertrauen und die Importe, die allesamt keine Frühindikatoren sind.
Ich glaube, wir sind fündig geworden
Ein Schaudern läuft einem über den Rücken, wenn man an 2008/09 zurückdenkt, als wir alle fassungslos vor den Bildschirmen sassen und zusahen, wie die Banken mit Kursverlust an der Börse von 60 und 70% an einem Tag kollabierten, Währungen wie der russische Rubel abstürzten, Länder- und andere Risikospreads explodierten, die Zinsen auf kurzfristige Anleihen unter null fielen, bisher wasserdichte Unternehmen wie Hyporeal implodierten, die Notenbanken mit abgesägten Hosen dastanden und wir alle kollektiv in den Abgrund blickten.
Nur einige Opfer von 2008/09 seien erwähnt: Freddie Mac, Fannie Mae, Indymac, Merrill, Bear Stearns, Lehman, Wachovia, AIG, Washington Mutual, RBS, HBOS, Lloyds, Dexia, Statestreet, Northern Rock, Fortis, ja sogar Citi, gestorben, verstaatlicht oder für einen Apfel und ein Ei geschluckt. Ich erinnere mich an einen Cartoon mit einem Mann mit Taschenrechner vor dem Bildschirm, auf dem stand: «To see the share price of Citigroup please press zero».
Es war allein die chinesische Regierung, die bereits 2008, noch vor den Tiefstständen der Weltaktien, mit einem monströsen Stimulus begann, die globale Realwirtschaft wieder anzukurbeln. Da dies vor allem über die staatlichen Banken via Infrastruktur geschah, lässt sich dieser Effekt wunderbar am chinesischen Kreditimpuls ablesen, und schon haben wir unseren wichtigsten chinesischen Datenpunkt gefunden.
Der Kreditimpuls beschreibt die Veränderung der Kreditschöpfung im Verhältnis zum BIP und ist ein Barometer der Wirksamkeit für die chinesischen Wirtschaftspolitik.
Schauen Sie sich diese wunderbare Korrelation an
Der Korrelationskoeffizient des chinesischen Kreditimpulses (ein Vorlaufindikator von neun Monaten) mit dem US-Konjunkturbarometer ergibt im gleitenden Durchschnitt seit 2015 einen Wert von 0,64 auf einer möglichen Skala von -1 bis +1 (-1 bedeutet: vollkommen gegenläufige Entwicklung, +1: vollkommene Synchronität). Für Zahlen aus derart verschiedenen Milieus ein ungewöhnlich hoher und stabiler Wert.
Der chinesische Kreditimpuls hat drei einzigartige Stärken als Masszahl: Er ist der beste Frühindikator für die Stärke der chinesischen Wirtschaftsaktivität, er ist ein formidabler Frühindikator für die für den Westen enorm wichtigen chinesischen Produzentenpreise und die zentralen Importe, für den Frachtumsatz in China, für die dortige Industrieaktivität, für den Li-Keqiang-Index und den chinesischen Einkaufsmanagerindex (PMI). Und er ist ein Frühindikator für den US-PMI, sowie für einige wichtige Vorlaufindikatoren der Inflation in den Industrieländern wie zum Beispiel die Rohstoffpreise, Industriemetalle, und in den vergangenen zehn Jahren sogar für die im letzten Beitrag diskutierte, wichtigste Finanzkennzahl der Welt, die globale Geldmenge M2.
Kaum eines unserer Finanzmodelle kommt ohne diesen wichtigen Input aus. Wer nicht gerade ein sündhaft teures Finanzportal sein Eigen nennt, tut sich schwer, diese Zahl zu errechnen; er muss eine Unzahl verschiedener chinesischer Finanzkanäle addieren und gegen das nominale BIP Chinas stellen.
Übrigens hat China, um sich (und den Westen) in der Finanzkrise zu retten, mit dem oben erwähnten Stimulus vielleicht Harakiri begangen, ohne es zu wissen. Denn die Folge dieser Herkulestat war ein sprunghafter Anstieg der Staatsverschuldung: Japan wurde reich, bevor es alt wurde, China wurde alt, bevor es reich geworden ist.
Gelegentlich wird geschrieben, dass dieser Indikator im Zuge des Umbaus der chinesischen Wirtschaft von Debt-Heavy (Infrastruktur) zu Debt-Light (Konsum) an Bedeutung verlieren könnte. Allerdings hat China mit diesem Umbau noch nicht ernsthaft begonnen, so dass ich weiterhin von einem solitären Charakter des chinesischen Kreditimpulses ausgehe.
Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei letzte Fragen:
Was sagt uns der aktuelle Trend? Der Kreditimpuls fällt in letzter Zeit deutlich. Der Vorlauf auf die USA beträgt drei Quartale. Bis frühestens 2025 kommt aus China somit eher Abwärtsdruck als Hilfe für die westliche Konjunktur. Übrigens: Auch das chinesische Geldmenge M2 bricht aktuell zusammen.
Hilft uns China in der nächsten Krise? Wer weiss. Hoch verschuldet wie China heute ist (290% Gesamtverschuldung im Verhältnis zum BIP und steigend), kann man nicht per se damit rechnen, dass das Land noch einmal für uns die Kastanien aus dem Feuer holt.
Jürg Lutz
Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Der Bündner ist Vater von zwei Kindern und beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.